Wolfgang Meisenheimer

Vorträge

Wolfgang Meisenheimer

Am 24. Mai 2015 hielt Wolfgang Meisenheimer im Leopold-Hoesch-Museum Düren einen Vortrag zum Thema Utopische Modelle zur möglichen Entwicklung Dürener Plätze.

Im Anschluss moderierte er eine öffentliche Diskussion über besonders problematische Orte im Bild der Stadt Düren.


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Das Jubiläum der Kölner Werkbund-Ausstellung 1914 wurde 2014 von einigen Werkbund-Ereignissen begleitet, u.a. von einem Vortrag von Wolfgang Meisenheimer beim Goethe-Institut Rom am 19. September 2014.

Wolfgang Meisenheimer

Zukunftsaspekte.
100 Jahre nach der großen Werkbund-Ausstellung in Köln 1914.

Einleitung.
6 Bilder: Lageplan und Luftbild der Ausstellung, 2 Bilder Walter Gropius, Musterfabrik, 2 Bilder Bruno Taut, Glashaus.

1. Die Werkbund-Ausstellung in Köln 1914
gehört zu den großen Ereignissen des XX. Jahrhunderts, die die MODERNE eröffnet haben. Was aber ist MODERNE?
Die Definition des Begriffs ist schwierig und bis heute problematisch. Eines aber steht fest: von den örtlich begrenzten Traditionen einzelner Kulturlandschaften sollte eine gemeinsame, erdumfassende Zivilisation abgelöst werden, die alle ethnischen und sozialen Gruppen umfasste und die rationale Basis für eine zukünftige Weltkultur darstellen sollte, der Kunst nah, aber stark wissenschaftlich geprägt, mutig, d.h. von der örtlichen Gesellschaft sich lösend, aber nachvollziehbar, "vernünftig".

2. In diesem Unternehmen steckte ein Gutteil UTOPIE.
Der Mensch der Zukunft, eine Art "Übermensch" (Nietzsche), sollte rational begabt sein, der Naturwissenschaft und der Technik nah, aber auch emotional empfindlich, von Träumen besessen, poetisch, hoffnungsvoll, offen für das noch nicht Existierende, d.h. zwei Arten von Utopie. In Köln waren deshalb besonders zwei Werke die Schlüssel zum Verständnis dieses MODERNE-Begriffs:
-Gropius´ Musterfabrik und Tauts Glashaus.

3. Gropius´ Utopie…
Der Begriff  ARBEIT wird in diesem Entwurf  rational interpretiert und monumental dargestellt:
-klare, geometrische Form,
-in Grundriss und Ansichten Achsial-Symmetrie, Mitte und Flügel rechts und links,
 dadurch der Ausdruck von Würde und Monumentalität,
-Transparenz und Berechenbarkeit ( Rationalität,Wissenschaftsorientierung),
-"Schaufenster-Charakter" mit schönen, gut gestalteten Objekten (Maschinen, Skulpturen, Malerei,
-Verzicht auf Architektur-Dekor,
-Sparsamkeit der Details (Oekonomie, neue Einfachheit).

4. Tauts Utopie…
"Hinauf! Ins Helle, Weite, Kosmische!" (Eine Szenerie des Gefühls.),
-die Leib-Orientierung aller Erlebnisse,
-die Begegnung des Menschengemachten mit dem Kosmischen,
-die Welt als Vorstellungswelt (Innenwelt),
-die Architektur als Meditationsobjekt, als begeisternde Szene, mehrschichtig,       bedeutungsvoll, dynamisch,
-Erschließung: Wege- und Treppensystem mit Bewegungs-Choreografie,
-das Erlebnis-Ich im Mittelpunkt (Nietzsche),
-die Objekt-Welt nahe bei Märchen, Traum, Poesie, Tanz, Gesang,
-ein Architektursystem, das Lust erzeugt, Bewegungslust, sinnliche Freude,
-die Materialien körpernah: mit Füßen, Augen und Ohren zu begreifen!
-Kunst ist mit Technik vereinigt!

5. Die beiden Weltkriege
haben diesen Kampf (die Bemühung um einen vielschichtigen MODERNE-Begriff) chaotisch zerstört, irritiert, abgebrochen.
Auch die Arbeit des Werkbundes und des Bauhauses (das als Ableger des Werkbundes zu verstehen ist).
Die Nachkriegsideologie des Werkbundes  (durch meinen Lehrer Hans Schwippert und seine Freunde wiedergegründet) konnte sich nur mühsam gegenüber dem allgemeinen Materialismus und Ökonomismus behaupten.

6. Heute, 100 Jahre nach 1914
müssen wir fragen: wie hat sich der MODERNE-Begriff (vor dem Hintergrund der großartigen Utopien von Gropius und Taut) entwickelt?
Meine Antwort:

-Die Gropius-Utopie 
hat sich weitgehend durchgesetzt (Technik, Ökonomie, Materialbeherrschung, Würde der Arbeit, -allerdings zugunsten des Kapitals und zum Nachteil der tätigen Menschen als soziale Gemeinschaft.

-Die Taut-Utopie
ist ohnmächtig geblieben.
Der Leib (in seinem natürlichen, sozialen und kulturellen Umfeld) als primärer Erfahrungsraum des Menschen bleibt die dringendste Aufgabe des Werkbundes heute! Die Humanisierung der durchtechnisierten, durchrationalisierten, digitalisierten  Welt der Geräte und Systeme! Die technischen Standards der Moderne (Produktion, Kommunikation und Konsum), global erwünscht, sind mit den Sehnsucht-Dimensionen des Leiblichen zu verbinden. Das Kosmische ist nicht nur technisch-wissenschaftlich, also objektivistisch zu verstehen, sondern auch als Innenwelt-Projekt, subjektivistisch. Das Leben der Künstler in der Gesellschaft ist de facto unakzeptabel, unwürdig. Künstler, Träumer, Kinder, Alte, Studenten (Menschen außerhalb der Leistungsgesellschaft), diese Menschen in ihren Leibern sind auch Menschen. Das Erlebbare muss gestaltet werden, nicht nur die Dinge als Objekte.
Die Philosophie muss sich phänomenologisch entwickeln, die Politik menschlich, die Architektur humanistisch, körpernah!


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Die Kölner Ausstellung „100 Jahre Deutscher Werkbund. 1907 – 2007“ (Phase 1 und 2) wurde von einer Vortragsreihe begleitet. Wolfgang Meisenheimer sprach am 6. September 2007 im MAK (Museum für Angewandte Kunst) Köln.

Vortrag vom 6. September 2007

Die Architektur und der Raum des Leibes.
Werkbund-Ideen 2007.

Die modernen der ersten Stunde – einige davon die Gründer des Werkbundes – waren Revolutionäre in dem Sinne, dass sie in allem was sie machten den Keim einer besseren Zukunft der Menschheit, politisch wie ästhetisch, gesehen haben. Sie wollten, zum mindesten nach ihrem eigenen Verständnis, Ideal-Modelle bauen. Denken wir nur an Gropius’ Fabrik, Van de Veldes Theater und Tauts Glashaus in Köln 1914, die Pott-Bestecke, die Rasch-Tapeten usw. Auf das Zukunftmodellhafte, das ausdrücklich DEN modernen Menschen meint, kann unser Blick heute nicht mehr gerichtet sein, weil wir globale menschheitliche Visionen weder politisch noch ästhetisch wagen können zu entwerfen. Aber – haben wir deshalb nichts zu sagen? Haben wir keine Menschheit-Sehnsucht mehr? Fehlt uns heute der Blick für utopische Dimensionen? Nein!

Gewiss, weder im Politischen noch im Ästhetischen möchten wir vorschnell nach dem Gemeinsamen greifen, „gültige Maximen“ durchsetzen oder „letzte Theoreme“ proklamieren. Wir sind nach den großen Kriegen und den darauf folgenden Kulturzerstörungen empfindlich geworden gegenüber globalen Werten, wir wittern in allzu schnellen Sprüchen zunächst Platituden, ja Fallen – im Politischen und Ökonomischen, so etwa bei der Legitimation bracchialer Machtgesten auf den Wegen zur Demokratie, ebenso auch im Ästhetischen, bei der Legitimation aller möglichen Formenspiele und aufdringlicher Erfindungen vor ökonomischem Hintergrund, getreu dem Spruch, alles sei erlaubt, wenn es nur verkäuflich ist.

Was aber ist der echte Kern unserer Sehnsüchte heute? Was brauchen wir de facto jetzt? Was ist notwendig – positiv gesprochen? Wenn die gemeinsame Hoffnung NICHT MEHR in einer verbindlichen, modernen Utopie-Konstruktion liegt, wie das damals in Köln 1914 vielleicht noch möglich war trotz der widersprüchlichen Ansätze zu ihrer Bewältigung, was kann uns dann gemeinsam bewegen? Bei welcher Schwierigkeit lohnt der gemeinsame Auftritt? Warum überhaupt noch Werkbund?

Ich möchte nicht und kann nicht auf die Fülle der immer noch und immer wieder offenen Fragen eingehen, deren Pensum Roland Günter eindringlich zeigt. Einige Fäden, wenngleich die wichtigsten, werden in der Münchener Ausstellung „1907 – 2007“ vorgeführt, oft erinnernd und hilfreich zu verstehen, oft auch bedenklich und resignativ. Ich möchte anders vorgehen, statt auf die Überlieferung der Geschichte auf meine eigene Erfahrung mit Architektur und Lehre zurückgreifen, also einen engen, persönlichen Bereich, möchte mich ganz und gar einlassen auf meine eigene,aktuelle Werksituation und die Frage, ob ich Freunde habe, mich mit ihnen zu verbinden, kritisch und schöpferisch, wie ich es von meinem Lehrer Schwippert gelernt habe: Werk-Bund-Freunde.

Meine Denk-Situation ist folgende. Wir sind verantwortlich, mit-verantwortlich, für die konkrete Realisierung von Erlebnis-Angeboten der gestalteten Umwelt an unser Leibes-Ich, für akzeptable Angebote an die Sinnlichkeit, das Fühlen und Denken von Menschen, die ihr Selbst in gestalteten Räumen wiedererkennen, ja spiegeln wollen und dort nach Begegnungen suchen. Das stärkste Phänomen der kulturellen Entwicklung unserer Zeit ist wahrscheinlich die Medialisierung der Erde, die digitale Verknüpfung der Menschheit; ihre Folgen sind unendlich und vorerst sicher nicht abschätzbar, psychologisch, politisch, kulturell, künstlerisch, in jeder Beziehung. Deshalb ist die Arbeit am architektonischen Raum, am konkret Gebauten und an den materiell gestalteten Dingen des Alltags lebens –und überlebenswichtig! Diese Werkarbeit muss leisten, was gerade im allgemeinen Bewusstsein verloren zu gehen droht, was unsichtbar oder undeutlich wird, nämlich die Verankerung des Leibes an einem erlebbaren, gut gestalteten Ort, an einem Ort, der den eigenen „denkenden“ Leib reflektieren, in elementaren gestischen Strukturen sogar spiegeln kann, wie sich an großartigen Beispielen zeigen lässt. Die Landschaft um das Selbst, um das leibliche Ich herum darf sich nicht diffus auflösen in elektronischem Datensalat, Homepages, Internetadressen, Zahlen, Impulsen, technischen Werten. Die Welt um unseren Leib kann nicht nur Zeichenlandschaft sein! Unser Selbst ist zunächst und vor aller elektronischen Kommunikation konkret, der Leib ist für jeden Menschen das kostbarste Kriterium auf der Welt, das notwendigste Werkzeug, diesseits von Technik und kulturellem Überbau. Trotz des übermächtigen und erpresserischen Drucks der Medien, psychologisch, politisch und kulturell, müssen wir auf der würdigen Gestaltung solcher konkreter Orte beharren. Wir müssen dafür sorgen, dass jeder Mensch in einem unverwechselbaren Raum zuhause sein kann, dass er sich dort wiedererkennt, dass die Atmosphäre seines besonderen Lebensraumes die SEINE ist, nicht austauschbar und nicht medial verzerrt, nicht von der Art von Zeichen (diese sind transformierbar!), nicht Begriffe (sie können einander ersetzen!) und nicht Werbematerial (es ist käuflich!), vielmehr einmalig und materiell fühlbar um Hand und Mund und Haut herumgelegt, körperlich berührbar.

Eine der bedeutendsten Weichenstellungen in der historischen Werkbundarbeit war die frühe, funktionalistische, die von Hermann Muthesius 1907 – 1914 eingeleitet wurde: man müsse nicht nur über die gestalterische FORM von Dingen reden, sondern zugleich über die Art ihrer materiellen Herstellung, also über das MACHEN. Eine zweite, ebenso bedeutende Weichenstellung war die von Hans Schwippert, der 1959 bei der Werkbund-Tagung Die große Landzerstörung mahnte, man müsse nicht nur über das Machen reden und seine Bedingungen, sondern zugleich über das BRAUCHEN und seine Bedingungen. Eine aufregende Phase von Werkbund-Diskussionen über Wahrnehmungs- und Lebensumstände schloss sich an , die Erfahrungsberichte der 70-er Jahre, die Anstrengungen von Lehmbrock, Kükelhaus, Andritzky, Rahe, Burkhard usw. Sie führten begriffereich an den Rand der Arbeitsfähigkeit der in ihren Werkstätten und für den Alltag produzierenden Kollegen. Wie sollte man auf die Verzerrungen der industrialisierten und globalisierten Arbeitswelt konkret reagieren? Die begriffliche Artikulation der Schwierigkeit, moralisch nobel gemeint, absorbierte und lähmte auch die Kräfte der Macher auf den Baustellen. Daraus folgt: das Reden muss einfacher werden. Ich meine, auch die wichtigsten Phänomene sind einfache Phänomene. Lassen Sie mich versuchen, aus der praktischen Arbeit heraus eine einzige Beobachtung deutlich zu machen, allerdings eine solche, die das Verhalten unserer Köpfe, unserer Hände, unserer Haut verändern könnte bei der Produktion einer besseren Umwelt. Sie betrifft die notwendige Verschiebung unserer Aufmerksamkeit.

Das zentrale Feld unserer Arbeit sollten nicht mehr die Formen der Dinge sein; viele Menschen neben dem Werkbund machen inzwischen gute Dinge, vieles davon ist vom Werkbund gelernt. Es sollte auch nicht das Reglement des Gebrauchs sein; ein dichtes, ja aufdringliches Netzwerk von Anleitungen zum rechten Leben ist durch das mediale Korsett auf jedermann angesetzt, ringsum, weltweit und mit kaum erträglicher Impertinenz. Unser Arbeitsfeld in diesem denkwürdigen Jahr und danach sollten die Fragen der ANGEMESSENHEIT sein. Welche Korrespondenzen zwischen den Formen der Dinge und den Strukturen unseres Leibes sind lebenswichtig, welche davon müssen gefunden, welche müssen erfunden werden? Das sind die zentralen Fragen zur Arbeit des Werkbundes hundert Jahre nach seiner Entstehung. Welche Ausdrucksqualitäten gestalteter Dinge passen zur Formen- und Bewegungswelt menschlicher Leiber, und welche davon sind warum sympathisch? Was mögen wir? Welche Strukturen der Leib- und Dingwelt und welche ihrer Korrespondenzen liegen den bewussten und den unbewussten Neigungen, d.h. Bewertungen und Empfindungen zugrunde?

Der neue Werk-Begriff muss auf die Produktion „konkreter Atmosphären“ angesetzt werden, die leibverständlich und wiedererkennbar, für die Wahrnehmungssinne und das Erinnerungsvermögen lesbar sind. Nach wie vor gilt: diejenigen von uns sind die „Meister des Konkreten“, die sich zu erfahrenden Machern am Material ausgebildet haben. Die Theoretiker unter uns sind deshalb keineswegs überflüssig, aber sie sollten Leibphilosophen sein, Erlebniswissenschaftler, Ortskundige, Schwergewichtler in der Kenntnis des Lebens. Die Medien-Theorie, gewiss das Kernstück der heutigen Natur- und Geisteswissenschaft, können wir getrost den anderen überlassen.

Das schließt nicht aus, sondern meint ausdrücklich, dass wir unsere Arbeit interdisziplinär verknüpfen, dass wir in wissenschaftlicher, künstlerischer und politischer Nachbarschaft präzise Auskünfte einholen, Techniken und kommunikative Begriffe lernen. Was mit den Darmstädter Gesprächen tastend und großartig begonnen hat muss intensiv fortgesetzt werden. Das zentrale Interesse des Werkbundes bleibt, scheint mir, das Werken mit der Hand, das heißt aber: mit dem erfahrenen Leib, dem denkenden Leib, dessen Bedürfnisse interdisziplinär befragt werden müssen, um sie logisch zu verankern. Deshalb bietet der Deutsche Werkbund NW u.a. eine jährliche AKADEMIE an, die etwas wie kollegiale Neugier pflegt. Sie verlockt zu Ausblicken in die Randzonen unserer eigenen und in die Kernzonen anderer Fachgebiete. Sie fragt nach den Fragen, die bei der konkreten Arbeit der Künste, der Wissenschaften und sozialer Aktivitäten entstehen, wenn es um die Qualität erlebbarer Räume geht.
Die Akademie findet einmal jährlich statt, an einem Wochenende im Sommer, freitags bis sonntags. Sie bietet drei Tage Gespräch an mit jeweils ca. zehn Vorträgen, Diskussionen, Spaziergängen, dabei zwei Übernachtungen und Beköstigung drei Tage (dieses Jahr z.B., 2007, im Schloss Gnadenthal für
EUR 150,00 /Person). Die Themen der letzten Jahre hießen:

2001 Architektur als Szenerie des Gefühls.
2002 Die Architektur und das Organische.
2003 Architektur, mit anderen Augen gesehen. Architektur unter dem Blickwinkel der Künste, der Wissenschaften, der Medien.
2004 Körperverlust und architektonischer Raum.
2005 Zwischen Innen und Außen.
2006 Architektur im öffentlichen Bewusstsein.
2007 Architektur als Bühne
2008 Möglicherweise: Ewigkeit und Augenblick. Die Architektur und die Zeit.

Lassen Sie mich in diesem Zusammenhang eine Bemerkung über unsere Ausstellung im Rathaus machen, über den „Stelenwald“ und die „Projekte-Tafeln“ 2007. Sie ist von ihrer Konzeption her – im Gegensatz zur Münchener Ausstellung – nicht etwas „Gültiges“, ein „geistiges Ding“, eine „Komposition“ im Carthesischen Sinne, gar ein aus Teilen zusammengesetztes Ganzes. Sie zeigt vielmehr im Beuysschen Sinne eine hochkomplexe Versuchsanlage, eine bunte Anordnung von Proben – vom Carthesianismus wegführend in eine offene, gegenwärtige Zukunft! Sie zeigt die verschiedensten Möglichkeiten des Denkens /Fühlens/ Wollens /Wahrnehmens / Erinnerns / Vorstellens in der Interpretation ganz verschiedenarbeitender Macher, erstaunlich widersprüchlich, aber mutig, durch interdisziplinäre Anregungen belebt und gemeinsam an Gestaltqualitäten und geistigen Atmosphären interessiert, objektiv und subjektiv! Wir sind stolz auf diese „Demonstration des Ungefähren“, auf diese Offenheit.

Die philosophische Grundposition des WB heute ist NICHT mehr die Suche nach der „gültigen“ Gestaltung für DEN modernen Menschen, nach kanonisch geprüften, letzten Wertfiguren, sondern die des fragenden Experiments, des Denk-Labors, das die möglichen Formen der gestalteten Umwelt (sichtbare und unsichtbare) vor dem Hintergrund konkreter Lebensbedingungen prüft. Diese Arbeit soll nach unserer Vorstellung eine kollegiale, interdisziplinäre sein, angeregt durch die Denktradition des frühen Werkbundes und weitergedacht in die philosophischen Positionen der Gegenwart hinein, nah an der neuen Phänomenologie, offen für ein ganzheitliches Verständnis von Welt und Welterlebnis. Unsere Architektur ist nicht mehr ein „Spiel mit festen Regeln“. Wir stellen die „festen Regeln“ infrage. Aber in der jeweiligen Arbeitssituation sind wir leidenschaftlich interessiert am Verhältnis der gestalterischen Formen zu den Situationen des Lebens.

Der erweiterte Leibraum ist 2007 wie 1907 der vornehmste Gegenstand von Werkbund-Arbeit. Aber er wird von uns nicht abstrakt verstanden wie in der Frühzeit der Moderne, dreidimensional, technisch, ökonomisch, vermaßt, sondern vielschichtig, spürbar, atmosphärisch. Wir meinen mit der Herstellung von Räumen die Herstellung von erlebbaren Räumen, die die Hülle unseres Selbst und unserer kulturellen Nachbarschaft sind. “Konkret“ ist für uns das Leben, das Erlebnis, die Wahrnehmung, „abstrakt“ das Mathematisch-Dreidimensionale, Technisch-Konstruktive, auch das Ökonomische – nicht umgekehrt. Das Lernen mit Hilfe logischer Instrumentarien allerdings ist notwendig, es dient der Arbeit am Konkreten.
Für mein Gefühl steht dem zukünftigen Werkbund am wenigsten ein Zerfall der Gestaltungslehre zu Gesicht. Das postmoderne Suhlen im Allerlei, das sich womöglich damit begnügt, ökonomischen Maximen zu folgen, ist verhängnisvoll. Die Piraterie der Werbemedien („Das Extravagante hat Vorrang“) ist nicht Werkbundwelt, so stark dieser Sog auch ausgeprägt ist. Die Empfindlichkeit des Werkbundes gegenüber der gigantischen Übermacht von Wirtschaft und Konsumsehnsucht ist seit Schwipperts und Lehmbrocks Analysen ungebrochen und bitter notwendig. Die Aufmerksamkeit der zukünftigen Werkbund-Gestalter muss deshalb kritisch auf Fragen der Angemessenheit gerichtet sein. Welche gestalterischen Strukturen sind, diagonal zu den Fragen der Ökonomie und des Werbeinteresses, manchmal ihnen dienend, manchmal nicht, geeignet für die Konstruktion eines sinnvollen, ausgewogenen Lebens, für die Sehnsucht des Leibes nach Sinn und Erlebnis? Was diese Grundforderung betrifft, die Gestaltung von persönlichem Erlebnisraum, so bleibt nach wie vor die alte Werkbund-Maxime in Kraft: intimen Umgang mit Materialien pflegen, die Herstellung der Dinge als anfaßbare Dinge ernst nehmen, Werkvorgänge als Arbeitsvorgänge verstehen! Die Werkbund-Pädagogik hat schon vor 100 Jahren das Finden der Formen mit dem Finden der Herstellungsvorgängen in Verbindung gebracht, die Aura der Dinge mit dem Machen und im erweiterten Sinne Wohnen mit Arbeiten. So war der Gestaltbegriff ja schon damals nicht nur ein ästhetischer, sondern zugleich ein moralischer, sozialer und politischer. Das wird heute bei Herstellern und Konsumenten allgemein so gesehen, es hat sich durchgesetzt, aber dieses Verständnis hat sich einseitig ins Ökonomische entwickelt. Das Fragen richtet sich mit groteskem Pathos auf Werbung und Verkäuflichkeit. Wir müssen also unsere Fragen enger stellen: Welche Details, welche Gestaltverbindungen, welche räumlichen Stimmungen sind angemessen für konkrete Lebenssituationen an konkreten Orten? Wir müssen nicht für die „Menschheit“ bauen, aber für die Leibes-Sphäre bestimmter Männer und Frauen und Kinder bestimmter kultureller Landschaften. Wir müssen den architektonischen Raum der Nahwelt kultivieren! Architektur ist IMMER Innenarchitektur – auch im Städtebau. In diesem Sinne hat Julius Posener 1986 auf erschütternd einfache Art das Schicksal des Werkbundes auf eine Formel gebracht: „Wenn das Fortbestehen des Werkbundes einen Sinn haben soll, dann ist es der: dass er immer wieder versucht, uns die Erfahrung der Nähe zu vermitteln, das Vertrauen zu der Welt, mit der wir uns umgeben. Das wird, ich weiß, mit jedem Jahr schwieriger. Das wird, man weiß auch dies, mit jedem Tag wichtiger.“

Wenn ich von der Würde des Leibraumes spreche, so meine ich das nicht nur ästhetisch (das auch, gute Proportion, sympathische Details, anregende Farben) sondern zugleich moralisch, soziologisch und politisch (Selbstdarstellung, nachbarliches Schicksal). Es muss um die alten Fragen des Lebens gehen, um die Bedingungen für guten Schlaf, heitere Frühstücke, Lust beim Waschen und zauberhafte Erinnerungen der Haut. Mein Plädoyer für Architekturraum als Szene für den leibhaftigen Umgang des Lebens ist allerdings NICHT biologistisch gemeint, auch nicht heimatlich volkstümelnd; ich meine damit keine naive Lebensphilosophie oder gar penetrante Gemütlichkeit.

Nach der Hitlerzeit und dem Zusammenbruch des Kommunismus in Osteuropa wie auch des dirigistischen Katholizismus im Westen öffnet sich trotz der Weltbedrohung islamisch-terroristischer Art seit dem 11. November 2001- allerdings bisher nur andeutungsweise - die großartige Chance einer übergreifenden Weltzivilisation, bei der wir allseitig unsere kulturellen Depots öffnen, östliche und westliche, bei der wir anfangen zu ahnen, wie die Denkweisen, Wahrnehmungserfahrungen und Methoden künstlerischer und technischer Produktion (beispielweise die der japanischen Designer, der indischen Philosophen, der Rhythmiker aus afrikanischen Landschaften, der Filmemacher aus New York, Berlin etc. etc.) die Phantasie der Jugend um die ganze Erde herum beeinflussen, die internationale Öffnung auf Strukturen einer neuen, globalen Moderne hin anfängt, spürbar zu werden. Vorerst zeigt sich freilich nur eine Ahnung davon. Wir werden durch die digitale Kommunikation ungeheuerlich munitioniert und bereichert, das ist unsere Chance, aber nur dann, wenn wir gleichzeitig verstehen, unser körperliches Selbst zu bewachen, zu erhalten, wenn wir nach einem bewussten Reglement selbst den Saft aussuchen, der uns zu Kräften bringt. Die Zuständigkeit des Werkbundes wäre angesichts der möglichen Ausweitung einer neuen Weltzivilisation marginal, der Werkbund wäre in der Tat vielleicht überflüssig, wenn er nicht aus seiner Tradition heraus heute, 2007, bescheidene, aber sehr wohl deutliche Positionen beziehen könnte im Hinblick auf die Qualität möglicher gestalterischer Arbeit. Diese Positionen sollten sich meiner Meinung nach vorrangig auf den Nahbereich des Lebens, auf Dinge und Vorgänge beziehen, die mit dem Leib des Menschen korrespondieren und die Art dieser Korrespondenz für jedermann deutlich machen, beginnend mit den Volksschulen für die Kinder und endend mit den Volkshochschulen für das Alter. Das heißt, der Werkbund muss für die Lehre von Leib und Leibraum ein angemessenes pädagogisches Tableau entwickeln. Die Definition von „Leib“ ist bei mir allerdings eine andere als die von „Körper“. Während Körper primär das Physische meint, das Dingliche, Objektive, ist Leib eher die Fülle des Selbst, unser eigener Gefühlsmittelpunkt, besetzt von Erinnerungen und Wünschen, dem Lebenswillen und den Idealen, also das konkrete handelnde Ich. Das ist für jeden von uns die Zentralfigur der Erlebniswelt, der Schlüssel jeder Wahrnehmung und Erkenntnis, die Orientierungsmitte, auf die sich alle unsere Anstrengungen beziehen.

Werkbund-Arbeit wird in den Büros und in den Hochschulen meines Erachtens irritiert und verzerrt durch eine naive Überbewertung des Computers. Das Computerdesign suggeriert durch seine fabelhafte Präzision und Schnelligkeit, es erzeuge per se präzise und gültige Ergebnisse. Das Gerät betört, weil es mit der Attitüde der Weltzivilisation immer gestalterische Qualität zu liefern scheint – auch bei noch so minderwertigen Entwurfsideen. Was es aber liefert, ist zunächst nichts als geometrische Ordnung; es bevorzugt, zur Freude von Leibniz und Cartesius, das steril Euklidische. Ob seine Produkte aber das Geringste mit dem wahrnehmenden Leib zu tun haben, kann das Gerät selbst garnicht beurteilen. Im Gegenteil, es verschafft jeder programmierten Entwurfsidee den Ruch der Akkuratesse, was herauskommt ist aber allzu oft die Akkuratesse der Maschine, d.h. die begrenzte Weisheit der Ingenieurwissenschaft. Darüber können auch die Einführung von Kurve und Schräge, die fabelhaften Gemälde der „Neuen Paul Klees und Salvatore Dalis“ im Computer Design nicht hinwegtäuschen. Ihre Bühnenbilder sind gefährlich, weil ihr Illusionismus über ihre Leibentfernung und Leibentfremdung hinwegtäuscht. Denken sie etwa an die Theaterzauberwelt von Greg Lynn oder Zaha Hadid, rein visuelle Verführungen. (Im wohltuenden Gegensatz dazu steht die sinnliche Zauberwelt von Zumthor.) Das digitale Instrumentarium kann uns zwar gewaltig helfen, durch seine unglaublichen Ordnungsfähigkeiten und seine Geschwindigkeit bei der Übermittlung von Daten, bei den Vorgängen unserer Verständigung. Aber glauben Sie doch nicht, dass jede technisch mögliche Darstellung von Verdrehung, Biegung, Knickung, Vergrößerung und Verkleinerung sowie ihre Vermaßung (und Multiplikation mit EURO) brauchbar wäre bei der Suche nach erlebbarer Gestalt, nach Umwelt-Qualitäten, die die Finger wahrnehmen können. Die Kriterien für Qualität liegen eben NICHT im Gerät, sie liegen überhaupt nicht im Fundus der rationalen Werkzeuge. Die Kriterien für „gute Gestalt“ im Sinne des Werkbundes von heute liegen vielmehr in der Erfahrung des intelligenten Leibes, nicht nur im Kanon seiner Maße, das auch!, sondern vor allem seinem Selbstgefühl, seinen Wahrnehmungs-gewohnheiten, der ständigen Erinnerung an unsere kulturellen Standards und unsere nie endende Lebenslust, d.h. unseren Sinn für Schönheit.

Was ist Schönheit? 1907, aber auch 1948, bei der Wiedergründung des Werkbundes nach dem Weltkrieg durch meinen Lehrer Hans Schwippert und seine Freunde, war Schönheit für die Gestalter der guten Form eine objektive Eigenschaft von Dingen. Wenn Dinge, deren Formen für bestimmte Zwecke taugten, gut proportioniert waren und mit den um die Jahrhundertwende entdeckten Gesetzen der Gestaltpsychologie übereinstimmten, dann waren sie schön. Durch die imperative Verquickung mit der Gebrauchsfunktion hatte das Schöne allerdings im Werkbund wie gesagt auch einen moralischen Rang. Brauchbares Zeug hatte zugleich auch schön zu sein. Beide Begriffe sind für uns, 2007, desolat, jeder für sich und beide in ihrer Überlagerung. Wir wollen das Schöne nicht mehr so recht als eine objektive Eigenschaft von Dingen verstehen, und bei der Verquickung des Brauchbaren mit dem Schönen sind wir nicht mehr so sicher. Beide Begriffe haben in der verkürzten Darstellung als isolierte Dingeigenschaften ausgedient. Was ist an ihre Stelle getreten? Was schwebt uns heute vor als Richtmaß für entwerferische Qualität? Mir scheint, es ist die authentische Abbildung unserer Sehnsucht nach Begegnung mit dem Erkenntnis-Ich und möglichen Erkenntnis-Dus in der Welt der Dinge, gemeint ist die Brauchbarkeit einer räumlichen Struktur als Szene für den Handlungszusammenhang unseres Lebens. Die sollte konkret sein, d.h. auf die Umstände des Wohnens, Arbeitens, Feierns und Denkens bezogen, auf die Wahrnehmungen und Erinnerungen, eben auf die Sehnsüchte des Leibes. Eine globale Werbewelt will uns (in den Reagenzgläsern der Medien) „ideale Formen“ zum Kauf empfehlen, herabgestiegen aus den Glanzseiten der führenden Journale in den Konsumentenalltag. Der Werkbund ist aber nicht geschaffen für die pin-ups der Architektur und des Design. Lasst sie doch ihre „Hochzeitskantaten“ singen – sie haben durchaus ihren festlichen und „exotischen“ Sinn; stellt euch selbst aber auf die Geräusche des Alltags ein, Werkbundfreunde! Das Notwendige, das Lebenstaugliche ist unsere Sache, die Luft, die geeignet ist zum Tief-Atmen, die Nahsicht der Dinge: In der Alltagswelt ist die Würde des Leibes zu entdecken, sie ist gegen den gewaltigen Aufmarsch digitaler Formen und Werbekulissen zu verteidigen. Was wir brauchen ist die Sprache eines architektonischen Raumes der Nähe, der Sympathie, das Erlebnis von Atmosphären, die wir mögen, die zum Staunen und zu sinnvollen Handlungen anregen. Das Menschliche, es ist nicht „irgendwo“ in einem „globalen Raum“ verteilt, es liegt in uns selbst und um unser Selbst herum; da müssen wir also ansetzen! Keine Sorge, das Soziale, das Für-andere-Arbeiten, es geht dabei keineswegs verloren, gehört es doch zu den Sehnsüchten des jeweiligen Ich.

Wenn ich versuche, unsere Arbeit heute im Zusammenhang mit den Linien der Werkbundgeschichte zu sehen (es gibt mehrere, nicht eine!) so scheint mir, wir müssen einfach akzeptieren, dass dieser Werkbund kaum noch den Rang einer Institution hat, dass seine Lehren inzwischen unter Entwerfern und Herstellern so weit verbreitet, so selbstverständlich geworden sind, dass es überflüssig ist, seine Formulierungen zum Entwurf und zur Herstellung guter Formen immer wieder unter Werkbund-Fahne darzustellen. Was die Form der Objekte betrifft, so sind seine Maximen längst Allgemeingut, wenn auch gewiss nicht ringsum sichtbar und akzeptiert. Besonders die Gestaltqualität von Alltagsdingen ist seit 1907 unglaublich gestiegen. „Werkbund-Kataloge guter Formen“ sind heute meines Erachtens überflüssig; wir können sie unseren Freunden aus der Industrie überlassen. Auch „Gremien zur Auswahl und Bewertung guter Formen“ sind ständig in seinem Sinne tätig, meist allerdings ohne ihn, den Werkbund, als Vorbild zu nennen. Der Werkbund hat Schule gemacht. Roland Günter hat in Erinnerung gerufen, wie präzise sich seine frühen Forderungen und Maximen als immer noch gültig erweisen. Gerade deshalb kann er sich leisten, seine Aufmerksamkeit heute auf ganz bestimmte und aktuelle Fragen zu verlagern. Mir scheint, im Wirrwarr der kulturellen Entwicklungen im Medienzeitalter sind dabei zwei Schwerpunkte auszubilden:

  1. Ausgehend von intimen Kenntnissen von konkreten Orten und konkreten Lebensformen muss jeder einzelne Werkbund-Gestalter Beispiele liefern für angemessene Atmosphären im Sinne von Leibraum als Szenerie des Lebens.
  2. Der Werkbund als ein Ganzes, als Bund, sollte sich verantwortlich, mit- verantwortlich fühlen für die Erziehung von jedermann zur räumlichen Qualität, zu sinnlichem wie geistigem Erlebnis von Nah-Raum. Kindern, Erwachsenen und Alten muss jeden Tag und mit hilfreicher Didaktik gezeigt und erklärt werden, was räumliches Wohlgefühl und gute Form ist beim Wohnen, beim Arbeiten, in festlichen Situationen usw., d.h. welche Formen sich in Handlungssituationen bewähren.

Wir brauchen keinen Werkbund als „Institution“, die „Zertifikate“ gibt in Augenhöhe mit Ministerien wie zur Zeit von Heuß, Adenauer und Arndt. Unsere Aufgabe ist nicht geringer als damals, aber sie kann bescheidener formuliert werden. Wir sind ein Netzwerk von kompetenten Einzelnen, die herrlich kontrovers arbeiten, aber dennoch miteinander befreundet sind und interdisziplinär gemeinsamen Zielen folgen. Wir müssen nicht mehr die Industrie belehren, sie hat unsere Lehren längst aufgenommen. Wir müssen nicht mehr das Handwerk stützen, - das auch, aber nicht dem Handwerklichen als Objektewerk sollte unser besonderes Interesse gelten, sondern den Umgangsformen des Leibes mit den Dingen im Erlebnisraum in der Wohnung, am Arbeitsplatz, bei seinen öffentlichen Auftritten und bei seiner Erholung. Wir sollten auf vielen Ebenen der Arbeit Lehrer sein für die Konstruktion angemessener Atmosphären.