Wolfgang Meisenheimer

Akademiereihe heft 1

Die Architektur und das Auge. 1999.

Dokumentation eines Seminars zu Fragen der Architektur-Theorie, veranstaltet im Lehrgebiet Grundlagen des Entwerfens (Prof. Dr.-Ing. Wolfgang Meisenheimer) durch den Fachbereich Architektur der FH Düsseldorf, im SS 1999, Kloster Rolduc.

Inhalt: 

Wolfgang MeisenheimerEinführung in den Themenkreis
Otto Schärli Nicht nur die Fernsinne...
Thomas JansonDas zweiäugige Sehen. Die psychophysiologische Begründung der Tiefenraum-Phaenomene
Max J. KobbertGestaltstrukturen. Zum heutigen Stand der Gestaltpsychologie (Gespräch)
Susanne Annen Kunst als Irritation des natürlichen Blicks
Heiner HoffmannMit den Augen des Künstlers
Paul GoodMit dem Auge denken
Peter DegenCollage City. Collin Rowe und danach
Arnold WolffDas Auge Gottes
Michael Erlhoff Medienwelt, Täuschung aus Prinzip
Uta BrandesProjektionen des Augenblicks: Männlicher Blick und weibliches Auge?

Referenten- Verzeichnis:

Otto Schärli, Dipl.-Ing. Architekt, Pädagoge, Schriftsteller, Luzern, Thomas Janson, Dipl.-Ing. Architekt, Prof. Dr. Max J. Kobbert, Kunstakademie Münster, lehrt Kunstgeschichte, Dipl.-Ing. Susanne Annen, Architekt, Düsseldorf, Bankok, Prof. Heiner Hoffmann, T.H. Aachen, Maler, Prof. Dr. Paul Good, Philosoph, Kunstakademie Düsseldorf, Prof. Dipl.-Ing. Peter Degen, Bern, Architekt, Stadtbauhistoriker, FHD, Prof. Arnold Wolff, Dombaumeister in Köln i.R., Prof. Dr. Michael Erlhoff, Designtheoretiker, FH Köln, Prof. Dr. Uta Brandes, Kultursoziologin, Frauenforscherin, FH Köln.
 
Einführung in den Themenkreis

Im naiven Alltagsverständnis vermitteln die Augen zwischen meiner Innenwelt und der Welt der Dinge, zwischen hier und dort, Ich und Welt. Durch den Akt der Vermittlung entsteht Gegenwart, d.h. Gleichzeitigkeit von Ich (hier) und Welt (dort). Eine Art Raum-Zeit-Simultaneität ist bei der Wahrneh-mungserkenntnis als Vorgang gegeben.

Dem denkenden Betrachter fällt alsbald eine Fülle von Irritationen dieser "natürlichen Erfahrung" von jetzt und hier auf. Schon beim physischen Vorgang treten Zweifel auf - und zwar ständig -, die Augäpfel sind nicht starr, sondern wackeln, rechtes und linkes Auge haben nicht das gleiche Bild, Bewegungsmomente erschüttern die räumliche Erscheinung etc. etc.. Gibt es überhaupt EINE objektive Welt (Wahrheit), ist die Augen-Wirklichkeit zuverlässig? Ist sinnliche Wirklichkeit "wahr"? Ist sie (identisch) wiederzufinden? Gibt es dort draußen objektiv Dinge"?

Diese Zweifel-Erfahrungen machen deutlich: einfache Mimesis, d.h. bildgleiche Darstellung einer Dingwelt durch die Augen gibt es nicht. Die Welt erscheint nicht in uns als ganzheitliches Abbild. Vielmehr entstehen bei der sinnlichen Erkenntnis ständig neue "Konstrukte", d.h. für Menschen eigentümliche, arteigene Wirklichkeiten, die sich auf die Dingwelt beziehen, aber gleichwohl auch auf Erinnerungen, Intentionen , Wünsche, Vorlieben, Gewohnheiten, Ideen, geschichtliche Bindungen etc., d.h. wechselnde Anteile von Reizen aus der Ding-Welt (Außenwelt) einerseits und vielfache Strukturen des inneren Vermögens andererseits. Diese komplexe Welt-Orientierung ist neurophysiologisch im korrespondierenden System der Sinnesorgane und sinnvoll der Vernetzung desselben mit verschiedensten Hirnteilen (rechts und links) begründet.

Die Konstrukte im Sehraum sind in verschiedenen Situationen jeweils handlungsbezogen und deshalb sinnvoll. Eben deshalb aber sind sie wechselnd und diskontinuierlich gegeben, d.h. sie erscheinen nicht ständig und bleibend. Die besondere Leistung der Augen liegt besonders darin, daß sie die fernen Weltanteile vorankündigen und dadurch verfügbar machen. Fernes wird mit unserem handelnden Leib verbunden, dieser wird aber gleichzeitig vor einer Unmenge Umweltreize geschützt. Im Handlungszusammenhang werden nicht nur viele Reize ausgeschaltet, die Aufmerksamkeit wird durch die Auswahlvorgänge auf das wirklich Interessante konzentriert! Hier liegt vielleicht die physiologische Begründung für die Definition des Menschen als "Tier, das nein sagen kann" (Scheler). Augen lassen sich richten und scharf einstellen, aber auch abwenden und schließen. Augen sind also DERFernsinn des Menschen einerseits und der schützende, auswählende, eliminierende Sinn andererseits. Die artspezifische Rolle der menschlichen Sinne wurde u.a. von J.v. Uexküll als Umwelt-konstituierend beschrieben. Bei dieser Charakterisierung der Augenleistungen wird uns u.a. deutlich, wie sehr das Fernsehen (ohne Handlungsbeteiligung der Zuschauer) eine besonders "menschliche" Erkenntnisquelle ist!

Trotz aller Schwankungen und Irritationen im Sehraum bleibt es eine gute pragmatische Annahme, daß die Augen die Welt "wirklich" zeigen. Im Sehraum erscheint die Welt der Dinge als gegenüberstehend. Die Dinge sind hier Gegenstände. In diesem Sinne funktionieren die Augen als DAS objektivierende Organ des Menschen. Dagegen erleben wir im Hörraum zwar Klänge und Geräusche, nicht aber tönende "Dinge". Die auditive Welt erscheint nicht gegenüber. Die Augen sind im Zusammenhang praktischer Handlungen besonders zuverlässig. Sie "neutralisieren" die Welt, indem sie sie zunächst wahrnehmen ohne affektive Teilnahme, ohne allzugroße körperliche Nähe zu den Dingen. Wir können die Struktur der Welt bereits wahrnehmen und analysieren, BEVOR wir sie berühren, wir ahnen bereits ihre Wärme, ihre Härte, ihre Materialität. Die Wahrnehmungsfähigkeit unserer Augen ist zwar (gemessen an bestimmten Tieren) recht begrenzt, jedoch in unserem Lebenszusammenhang leistungsfähig genug, also pragmatisch im Sinne der Evolutionstheorie (K. Lorenz, 43, Vollmer, 75, Riedl, 79). Sehraumkonstrukte und Dingstruktur sind hinreichend übereinstimmend, so daß das Überleben der Art praktisch gesichert ist. Über alles Artspezifisch-Tierische hinaus sind die Menschen allerdings in der Lage, NEUE Welt-Strukturen auch im Sehraum zu erfinden, die ihre Erlebnis-Möglichkeiten geradezu unendlich erweitern, nämlich in den Arbeitsfeldern der Technik und der Kunst.

Leib und Welt bilden - beim Handeln wie bei den Erkenntnisvorgängen - einen Gesamtzusammenhang. Leibesaktionen bringen Welt hervor, in der Welt steckt die Gegenwart des Leibes. Eines ist ohne das andere nicht. So ist auch die Wahrnehmungserkennntnis der Augen eine Art Zwischengegenstand von Leib und Welt.

 
Die Darstellung der Sehraum-Phaenomene.

Seit den berühmten Ritz-Zeichnungen in steinzeitlichen Höhlen haben die Menschen versucht, ihre Erlebnisse im Sehraum darzustellen, d.h. künstlich und kunstvoll festzuhalten. Es handelt sich um Bilder von zweierlei Art: Dokumente und /oder Fiktionen. Graphik, Malerei und Skulptur zeigen vorwiegend fiktionale Bilder, d.h. die gestalterische, eigene Qualität des Gemachten überwiegt (die Eigenart der Lineatur, der Farbkomposition, der skulpturalen Figur), der Bezug zur vorgegebenen Dingwelt, das Motivische, bleibt dabei sekundär. Bei Foto- und Filmarbeiten dagegen wirkt häufig das dokumentierende Moment primär, d.h. der Bezug zum Abgebildeten, dabei bleibt die künstlerische Eigenqualität sekundär. Reine Dokumentation gibt es selbstverständlich nicht, immer wirken fiktionale, künstlerische Entscheidungen mit. Dagegen gibt es reine Fiktionen, ein abbildhafter Bezug zum vorgegebenen Raum der gesehenen Dinge muß in der künstlerischen Arbeit nicht angestrebt sein. Was die Kunst der Dokumentation betrifft, so haben sich im Laufe des 20. Jahrhunderts außerordentlich perfekte Darstellungstechniken entwickelt, die jedermann zur Verfügung stehen. Gleichzeitig hat sich die geradezu euphorische Vorstellung breitgemacht, die Welt sei überall und jederzeit darstellbar, eine Erwartungshaltung, die man als späte Geste cartesianischer Ingenieurkultur verstehen könnte.

In Erfüllung dieser Erwartung schwillt nun die Welt der Bilder ins Unermeßliche an. Die Prothesen des Auges liefern mit allen erdenkbaren Steigerungen der Leistung im Mikro- und Makrobereich Unmengen von Bildern, die gezeigt und gehortet werden. Das Welt-Archiv der Bilder beginnt, die Welt der Dinge zu überfluten, zu überdecken, unsichtbar zu machen. Im täglichen Erlebnisraum breitet sich die Sekundärkultur der Bilder aus, im Bewußtsein der Menschen beginnt der Darstellungsanteil den Dinganteil der Welt zu verdrängen...

Gleichzeitig wird das "Wirklichkeitsverhältnis" der Augen mehr und mehr fraglich - insbesondere durch die Tatsache, daß elektronisch hergestellte Bilder (und ein großer Teil des Bildervorrates der zivilisierten Welt ist von dieser Art) total manipulierbar ist.

Die dokumentarische Qualität als Bedeutungsträger ist völlig unzuverlässig. Spätestens seit der Bildberichterstattung über den Golfkrieg hat sich das Bewußtsein von ihrer willkürlichen Verfügbarkeit und der fatalen Konsequenz daraus schockartig eingestellt. Niemand kann seinen Augen trauen, was die abbildliche Dokumentation der Welt betrifft, weder der Bildinhalt noch die räumliche und zeitliche Zuordnung zum Vorgegebenen ist zuverlässig. Vielmehr gibt es die "fehlerlose Täuschung" und die "vollkommene Illusion". Damit tritt eine totale Desorientierung über WAHR und FALSCH ein. Was ist jetzt hier und dort wahr? Was stimmt mit vorgegebenen Dingen, Fakten und Vorgängen überein, was ist entstellt, komponiert, fiktional aufgebaut, ganz und gar künstlich erzeugt? Etc... Die rasante Entwicklung der technischen Geräte und Verfahren fördert gleichzeitig zwei Verhaltensweisen der Rezipienten, d.h. der sehenden Menschen.

Die Geschicklichkeit im Umgang mit hardware und software (Kameras, TV-Geräten, Scannern, Filmen, Projektionen etc. etc.) wächst erstaunlich rasch. Mit "channelhopping", "zapping" etc. ist offenbar eine neue Sinnlichkeit und Lust verbunden.

Andererseits: bei aller Poetisierung verschwindet das Weltvertrauen. Die Ohnmacht des einzelnen bei der Erkenntnis des "Wahren", beim Identifizieren der "echten" Dokumente wächst. Die Welt wird als Gegenstandswelt zunehmend unklar. Die Konsequenzen der Verwandlung des Leibes im elektronischen Zeitalter sind nicht abzusehen, die Entwicklung von Roboter-Wesen, Post-Humans, Cyborgs, d.h. von Mensch-Maschinen-Bastarden hat nicht nur spielerischen Rang.


Die Architektur und das Auge

Welche Rolle spielen nun die Augen beim Umgang mit Architektur, bei der Wahrnehmung, im Erlebnis, im Zusammenhang ihrer Strukturen, bei ihrer Planung und Herstellung?

Zunächst ist festzustellen, daß Architektur nicht etwa ein Ensemble von Dingen oder Objekten ist, die vor uns ausgebreitet wären und mit Augen zu sehen sind ... Vielmehr handelt es sich bei Architektur um einen Zusammenhang von Welt (Dingen) und Leibwelt (tätigem Leib). Sie ist ein unauflösliches Ganzes aus DORT und HIER, aus RAUM und AKTION (Zeit), d.h. eine relationale Szene, ein Ding-Handlungszusammenhang. "Gebaute Dinge" sind dabei lediglich die physikalischen Objekte, nicht die Architektur.

Die Augen sind nur EINES der konstitutiven Organe, die das Architektur-Erlebnis entstehen lassen, spielen neben dem Sehen (der Augen) doch das Hören (der Ohren), das Tasten und Bewegen (der Haut, der Muskeln und des Gleichgewichtssinnes im Innenohr) sowie das Riechen (der Nase) eine Rolle, miteinander verbunden in einer Fülle von synaesthetischen Empfindungen.


Historischer Abriß

Eine kleine Reihe historischer Skizzen soll zeigen, daß die "Arbeit der Augen" nicht immer gleichartig, sondern kulturabhängig war. Welche Rolle haben die Augen im Laufe der Architekturgeschichte gespielt?

Steinzeitliche Tempel (Malta)
Magische Rituale haben die gebauten Formen bestimmt. In dunklen Innenräumen bestimmten Geräusche und Gerüche und im wesentlichen die Wach- und Traumvorstellungen der Priesterinnen die Atmosphäre. Das Gesehene ist unwesentlich.

Ägyptische Architektur (Karnak)
Mythisch bestimmter Bewegungskult prägt die engen sehr dunklen Innenräume. Das Körperschema /Körpergefühl wird in Prozessionsbewegungen übersetzt. Die Vorstellungswelt wird stark durch Sprache (gesprochen, geschrieben) und Bilder angereichert. Das Auge arbeitet vorwiegend semiotisch.

Barock-Architektur (Borromini)
Der Betrachter entschlüsselt mit Blicken und Bewegungen den Raum. Augenaesthetik und Körperkultur (Tanz, Gestik) bringen die Leibwelt (insbesondere ihren Rhythmus) in den gebauten Raum. Bauten sind prägnante Gegenstände im visuellen und kinaesthetischen Raum.

Romantische Architektur /Landschaftskunst (englicher Garten)
Vordergrund /Mittelgrund /Hintergrund - die Augen ordnen ganz und gar den Raum. Architektur wie Malerei sind aesthetische Gegenstände, insbesondere künstliche Tiefenräume.

Funktionalistische Moderne (Le Corbusier)
Die Vernetzung bedeutender Wege und Orte ruft funktionale Nutz-Bewegungen hervor. Der Sehraum ist primär-semiotisch bestimmt. Die Sehdinge als aesthetische Objekte haben pragmatische Aufgaben, sie organisieren den Lebensraum als Handlungssystem.


Was ist zu tun?

Welche Rolle wird das Auge /kann das Auge in der Architektur heute spielen?

Das Interesse an Architektur ist zweifellos durch die hemmungslose Entwicklung der Darstellungstechniken (CAD, Foto, Film) stark ins Visuelle verschoben. Die elektronische Manipulation wird von der Gerätetechnik angeboten und über die Maßen praktiziert. Daraus resultieren ständig starke Wirkungen (der Schein der Präzision, der Schein der Monumentalität, der Schein kontrollierter Ästhetik), was dabei aber immer weiter verlorengeht ist die Zuverlässigkeit der Darstellungen in Bezug auf die eigentliche Erlebniswirklichkeit. Das "Leibhaftige" in der Architektur wird in der visuellen Vermittlung undeutlicher. Nicht-visuelle Qualitäten gehen (in Entwürfen wie ausgeführten Dingen) fast völlig verloren, das Leiblich-Ganzheitliche wird kaum mehr erkannt und beherrscht. Um Leibwelt und architektonische Dingwelt sinnvoll aufeinander einzustimmen, muß das "szenische Moment" dieses Zusammenhanges betont werden und zwar im Entwurf sowie beim realen Bauen und bei der Dokumentation. Neben die Arbeit der Augen muß kinaesthetische Bewegung treten, daneben die auditive Orientierung (die Arbeit der Ohren), die der Haut, der Muskeln und der Nase. Architektur muß stärker gestaltet und reflektiert werden als Szenerie des wahr-nehmenden , erkennenden Leibes.

Entsprechende Darstellungstechniken sind zu entwickeln und zu nutzen, so daß zum Beispiel der gebaute Innenraum als architektonisches Urphaenomen deutlich gemacht werden kann - nicht nur als Komposition aus zweidimensionalen Bildern, vielmehr in seiner Korrespondenz mit dem handelnden Leib. Nur dann wird die Architekturentwicklung sich auf "das Eigentliche" hinbewegen, wenn - über die visuelle Beherrschung hinaus - alle raumbildenden Sinnesorgane in das Erlebnis und die Darstellung einbezogen werden und das im Zusammenhang sinnvoller Handlungen.