Akademiereihe heft 9
"ARCHITEKTUR ALS BÜHNE"
Akademie des Deutschen Werkbundes NW 2007
(Schloss Gnadenthal)
Einführung in den Themenkreis
1. "Der Mensch lebt ekstatisch!"
Es stimmt, der Mensch sucht nach seinem Selbst, seiner eigenen Form, dem eigenen Charakter, indem er seine Kleidung, seine Frisur oder seine Wohnung gestaltet. Aber, im Unterschied zu anderen Lebewesen, Tieren und Pflanzen, will der Mensch auch über sein Selbst hinaus, er sehnt sich lebenslänglich nach mehr, nach dem Unbekannten, dem Anderen. Goethe lässt in seinem Faust die höheren Mächte sagen: "Wer immer strebend sich bemüht, den können wir erlösen". Das Ausbrechen aus den eigenen Grenzen kann zur wilden Leidenschaft gesteigert werden. Das Fiebern nach dem bedeutenden Anderen scheint das Alltagsleben aller Menschen mitzubestimmen; es handelt sich wohl um ein kulturelles Grundbedürfnis. Der Mensch lebt "ekstatisch"; der Mensch ist ein Grenzüberschreiter.
"Ekstase" (gr.) heißt in lexikalischen Definitionen außergewöhnlicher, übersteigerter Zustand. Ekstase kann plötzlich eintreten, aber auch durch Übungen vorbereitet, durch Drogen und Techniken künstlich herbeigeführt werden. "Ekstase" ist Verzückung, Entzückung, begeistertes Aussersichsein, ein Zustand rauschhaft gesteigerten Lebensgefühls; "Ekstase" ist eigentlich Geistes-Verrückung; eks-histanai (gr.) heißt herausstellen.
In eben diesem Zusammenhang müssen wir die Ausdrucksqualitäten menschlicher Werke und Zustände sehen: die Mimik und die Körpergesten, den leiblichen Ausdruck, die Sprache, gesprochene und geschriebene, alle künstlerischen Arbeiten sowie die ausdrucksvollen, von Menschen hergestellten Dinge, u.a. auch die Architektur. Bevor Architektur als bedeutungsvoller Gegenstand, Architektur als Bühne, besprochen wird, möchte ich an zwei große Ereignisse der Geistesgeschichte erinnern, die das ekstatische Heraustreten des Menschen aus sich selbst als eine Anstrengung bezeugen, die zum Urgrund unserer Kultur gehört.
Das erste ist die Aussage einer der frühesten heiligen Schriften der Menschheit, der Veden. In der Rig-Veda wurden um 700 v. Chr. in Indien poetisch-philosophische Formulierungen gefunden, die die Entdeckung /die Erfindung einer sittlichen Weltordnung in der Natur durch die Dichter (!) beschreiben: ein "Sehnen" stünde am Anfang der (kultivierten) Welt; und dieses Sehnen sei durch einen berauschenden Trank, das Soma, stimuliert worden... Ein großes, poetisches Bild, das zu denken gibt. In unserer Zeit enthält das Werk von Joseph Beuys (an unserem Tagungsort, in Kleve, geboren) eine solche Sehnsucht-Strategie: "Jeder Mensch ist ein Künstler." Beuys, vielleicht der bedeutendste Künstler unserer Zeit, führte in seinen Vorträgen ein Diagramm für die Entwicklung der Erlebniszeit ein, das "Pfeil-Charakter" hatte. Das Jetzt-und-Hier, ein mit jedem Akt vorrückender Zeit-Pfeil, wird jeden Augenblick von einer Sehnsucht–vorwärts und einer Sehnsucht–rückwärts getrieben, das meint ein Herüberholen von Qualitäten aus verschiedenen Vergangenheitdimensionen sowie aus magisch-mythischer Vorzeit in das eigene Handeln.
Das sind zwei Denkfiguren, die das Sehnen-nach-dem-Anderen, das Abheben-vom-Hier-und-Jetzt, zum Ausgangspunkt aller kulturellen Entwicklung machen. Jetzt soll die Architektur als einer der "Wege der Sehnsucht" beschrieben werden.
2. Architektur als Zeichensystem.
Architektur hat nicht nur Ding-Eigenschaften, sie ist auch durch mehrere Arten von Bedeutung geprägt. In diesem Sinne ist sie eine Sprache, eine Ausdruckswelt oder ein Zeichensystem. Um die Differenzierung ihrer Bedeutungs- oder "Bühnen"- Qualitäten hinreichend genau darzustellen ist es sinnvoll, in Anlehnung an die Sprachtheorie (Karl Bühler, Die Darstellungsfunktion der Sprache, 1934, insbesondere sein ORGANON-Modell) drei Arten von Bedeutung voneinander zu unterscheiden:
- die expressive Funktion der Sprache (d.h. ihre Ausdrucksqualität. Sie verweist auf ihre Sprecher),
- die appellative Funktion der Sprache (d.h. ihren Aufforderungscharakter. Sie wendet sich an jemand),
- die symbolische Funktion der Sprache (d.h. ihre Mitteilungs-Fähigkeit. Sie kann Aussagen über etwas machen, d.h. über Sachverhalte).
Ausdruckhaft ist etwa die Bruchstein-Mauer, die etwas über die Phantasie, die Geschicklichkeit etc. des Maurers "sagt" oder das Haus, in dem man deutlich das Naturell seines Entwerfers findet, etwa John Soane oder Antonio Gaudi. Von appellativer Art sind dagegen die "Handlungsanweisungen", die man an einer Kücheneinrichtung, einem Bad oder einem Bahnhofsgebäude "abliest"; das Objekt enthält mehr oder weniger präzise Empfehlungen, seine Angebote zu nutzen.
Von symbolischer Art sind zum Beispiel die Silhouetten der hinduistischen Tempel; sie stellen mit ihren spitzen, gestaffelten Türmen den Götterberg Meru dar. Oder die Kiesgärten japanischer Tempel mit ihren Felseninseln; sie "erzählen" vom Weltmeer und von schwimmenden Bergen und Erdteilen. Oder die Kuppel der für Köln konzipierten Moscheé; sie zitiert den Globus, also das Weltumspannende der islamischen Lehre. Im Prinzip lassen sich alle Architekturen zeichenhaft erklären; sie tragen Bedeutungen in sich; in diesem Sinne sind sie "Bühnen", allerdings Bühnen für verschiedenartige Aussagen.
3. Versuch einer Systematik der architektonischen Zeige-Funktionen (Bühnen-Charaktere).
Eine Fülle von Bildmerkmalen hat in der Architektur aller Zeiten den Charakter expressiver Funktionen. Wichtiger noch als die "Handschrift" bestimmter Entwerfer und Urheber (etwa Soane, Gaudi, Le Corbusier etc.) sind die vier "Urgesten", die seit Jahrtausenden bestimmte Strukturen des menschlichen Leibes in bestimmten Strukturen der Bauwerke spiegeln. Dies sind a) die Erhebung, das vertikale Stehen,
b) das Einnehmen eines Ortes, c) die Scheidung von innen und außen, d.h. die Ausprägung von Spannungen durch den Kontrast eng /weit. Der Leib des Menschen und die Formen der Architektur sind durch diese Gesten bei der Empfindung von Ausdruck miteinander verknüpft. Die appellativen Funktionen der Architektur sind entsprechend ihrer historischen Ausbildung in bestimmten Kulturkreisen mehr oder weniger festgelegt. Sie können kanonisch bestimmt sein ("Dies ist eine Schule; hier wird gelehrt/ gelernt!" "Dies ist ein Schlafzimmer; hier wird geschlafen!") oder aber auch offen bleiben, mehrfach kodiert oder nicht geprägt. ("Dies wurde als Krankenhaus gebaut, heute kann es aber als Festsaal /Konzerthaus benutzt werden." "Dies ist mein Arbeitszimmer, in dem ich auch schlafe.") Appellative Bedeutungen können durch Spiel, durch Überzeugungsarbeit, Improvisation usw. verschoben oder aufgehoben werden. Indem der Handlungscharakter des Funktionalen bewusst gemacht und "verbogen" wird, entstehen möglicherweise neue architektonische Widmungen (Performanzprinzip bei Christopher Dell u.ä.). Der Werkbund zum Beispiel kämpft für historische Würdigung vorgefundener Architekturformen, aber zugleich für deren Neu-Interpretation, d.h. einen neuen Begriff der Denkmalpflege (Roland Günter).
Architektur als "Museum" verstanden, als ein kulturelles, soziales Gedächtnis, rechnet mit dem Symbol-Verständnis ihrer Betrachter. Wie gebaute Formen auf Personen und Schicksale verweisen können (das Haus am Frauenplan in Weimar auf J.W. von Goethe), so können sie auch ganze Kulturlandschaften "darstellen". Die Kasbahs im Süden Marokkos zum Beispiel erzählen vom Leben der Berberstämme, die Eifeler Fachwerkhäuser vom Leben der Bauern und Holzfäller dort in vorindustrieller Zeit. "Stile" stehen häufig für Zeitepochen, Barock in Italien oder Spanien, Gotik in Frankreich oder Deutschland etc. Andere typische Bauformen erinnern an bestimmte Entwurfsschulen (Bauhaus, Atelier Le-Corbusier etc.). Das bildliche Darstellen hat besonders enge Bezüge im Historismus (etwa der Wiener Ringstraße oder in postmodernen Arbeiten bei James Stirling, Charles Moore etc.), wo Architektur Architektur "darstellt". Strenge symbolische Vermittlung wird auch bei Entwürfen angestrebt, die sich wie wissenschaftliche "Modelle" gebärden (z.B. das Brüsseler Atomium, Boullées Architektur oder der Eifelturm). Schließlich kann ein Gebäude jenseits aller Hinweise auf etwas anderes auch als Kunstwerk auftreten; es formuliert dann bedeutungsvoll sich selbst, sonst nichts (Frank Gehrys Bilbao-Museum, Zaha Hadids Feuerwache, Hans-Jörg Voths Orion).
4. Bei alledem gibt es Fehlentwicklungen, Entgleisungen, ironische, humorige oder hilflose Missbildungen einer Entwurfsidee, die die gemeinte Bedeutung entstellen, infrage stellen oder durch überraschende Interpretation aufheben. Werden doch alle Ausdrucksqualitäten aus bestimmten (semantischen) Blickrichtungen gelesen und in ihrem Wert /ihrer Aussagekraft gewürdigt. Und dies ist abhängig von der geschichtlichen Position des Machers wie des Betrachters. Deshalb sind Aussagen über "Architektur als Bühne" nicht ein für allemal gültig.
Referenten-Verzeichnis:
Prof. Dr. Wolfgang Meisenheimer, Architekt, Architekturtheoretiker, Düren
Prof. Niklaus Fritschi, Architekt, Düsseldorf
Prof. Benedikt Stahl, Architekt, Düsseldorf
Prof. Werner Ruhnau, Architekt, Kulturphilosoph, Essen
Prof. Gregor M. Rutrecht, Architekt, Aachen /Kaiserslauten
Prof. Dr. Rudolf Heinz, Philosoph, Psychoanalytiker, Düsseldorf
Prof. Dr. Angela Krewani, Medienwissenschaftlerin, Marburg, Düsseldorf
Prof. Dr. Thomas Schleper, Museumsleiter, Kulturhistoriker, Oberhausen
Prof. Dr. Gabriele Oberreuter, Kunsthistorikerin, Rheinbach /Alfter
Prof. Jörg Lensing, Komponist, Theatermacher, Dortmund /Düsseldorf
Stefanie Bürkle, Künstlerin, Bühnenbildnerin, Berlin /Zürich
Prof. Karsten K. Krebs, Innenarchitekt, Architekt, Hannover /Düsseldorf
Inhalt:
Wolfgang Meisenheimer, Einführung in den Themenkreis.
Niklaus Fritschi /Benedikt Stahl, Die Stadt als Bühne.
Werner Ruhnau , Heilige und andere Spiele.
Gregor M. Rutrecht, Körperexpression und dingliche Umgebung.
Anmerkungen zu Hysterie und Architektur
Angela Krewani, Architektonische Bühnen in Film und Fernsehen.
Historische und aktuelle Beispiele.
Thomas Schleper, Das Museum als Bühne der Bildung.
Gabriele Oberreuter, Innenräume als Erinnerungsräume.
Jörg U. Lensing, Architektur als Inspiration für szenografische Umsetzung und filmische Kompositionen.
Stefanie Bürkle, City as stage. Berliner Beispiele
Karsten k. Krebs, Ästhetik als Provokation. Das Erhabene, das Ärgerliche, das Intime usw.