Wolfgang Meisenheimer

Akademiereihe heft 14

MIMESIS. DAS PRINZIP NACHAHMUNG.

Akademie des Deutschen Werkbundes NW 2012
(Schloss Gnadenthal)

Wolfgang Meisenheimer

Einführung in den Themenkreis

"Denn der Nachahmungstrieb ist dem Menschen von Anfang an angeboren, und dadurch unterscheidet er sich von den übrigen lebenden Wesen, dass er am meisten Lust zur Nachahmung hat und dass er seine ersten Fertigkeiten durch Nachahmung erwirbt, und dann haben alle Menschen Freude an der Kunst der Nachahmung." (Aristoteles, Poetik 2)

 

Die Anfänge der Kulturgeschichte.

Es ist wohl die Ohnmacht des Menschen gegenüber den Kräften der Natur, Wasser, Sonne, Wetter, Tieren usw., die zur Entwicklung von aufrechtem Gang und zweiäugigem Sehen geführt hat. Durch diese Ausbildung seines Leibes konnte der Mensch sich den Gefahren aus der Entfernung stellen, ohne körperliche Berührung; er konnte gewissermaßen "sein Schicksal vorwegnehmen".

In den Anfängen der Kulturgeschichte begegnet der Mensch gefährlichen Kräften durch Imitation als "magische Beschwörung". Er ahmt mit Masken, Tänzen und Stimmen Tiere und Naturkräfte nach, stellt seine eigenen Ahnen dar, erfindet im Spiel Szenen der Zeugung und Geburt, Tod und Überwältigung. So gelingt ihm die kreative Verwandlung der Katastrophen. Höchstleistung dieser Entwicklung sind die Erfindung der Götter und Geister sowie die Formulierung mythischer Erzählungen. Die Macht der Natur wird für den Menschen verfügbar, nicht zuletzt durch mimetische Gestaltung. In diese frühen Prozesse der Kultivierung geht die Zeit als ein "künstlerisches Konstrukt" ein: Wirklichkeit, wie sie ist, d.h. erlebt wird, wie sie war, d.h. als Vergangenheit vorgestellt, und wie sie sein könnte; so gelingt eine wunderbare Vervielfältigung der Denkmöglichkeiten über die Wahrnehmung hinaus. Um 1500 v.Chr. wird in China die Schrift erfunden, die es erlaubt, zunächst ein imitatives "Bild der Wirklichkeit", über den Erlebnisraum hinaus Mitteilungen an Menschen zu machen, die anderswo leben.

 

Frühe europäische Antike.

Die alten Griechen verstanden die Natur -angeregt durch Formulierungen aus dem Zweistromland von Euphrat und Tigris sowie aus Ägypten- als einen Kosmos der Götter, d.h. als einen geordneten Raum. Kulturelles Ziel war: das von Menschen Erfundene, der Umraum, solle diesem Kosmos in seinen Strukturen entsprechen. Das System der einfachen, ganzen Zahlen und ihre Proportionen wurden nicht zuletzt durch Pythagoras (580-497 v.Chr.), u.a. durch seine Erfindung des Monochord , als Strukturmodelle aller Dinge im gestirnten Himmel und auf der gestalteten Erde formuliert. Der Kreis, das Quadrat und die pythagoräischen Grundkörper wurden als Elemente des harmonischen Weltganzen auch in die Produktion aller "schönen" Dinge eingeführt. Bei der Formulierung der Grundlagen wurde zugleich der menschliche Körper als ein harmonisches "Vor-Bild" gewürdigt und führte über Effigienbilder, Skulptur und Tanz zur Darstellung des Apollinischen als Kanon der Schönheit, im Verlauf der europäischen Kulturgeschichte schließlich zur Formulierung des humanistischen Harmonie-Begriffs bis hin zur guten Gestalt der Moderne, des Werkbundes und des Bauhauses.

Bekannt ist die Körper-Skepsis der Christen. Das christliche Mittelalter hat den Körper eher als "Ort der Seele" akzeptiert und ex cathedra gegen Leib, Sinnlichkeit und eigene Wahrnehmungserlebnisse polemisiert.

 

Beginn der Neuzeit.

Die "mimetische Erziehung des Menschen" in Renaissance und Humanismus sowie in der bürgerlichen Neuzeit nach der französischen Revolution hat sich vorwiegend auf drei Ebenen abgespielt.

Erstens wurde die kulturelle Erziehung mehr und mehr mit der Idee persönlicher Vorbilder verknüpft. Das Lernen von bedeutenden Menschen, Eltern, Lehrern, Trainern, Idolen und Stars, rückte mehr und mehr in den Mittelpunkt der persönlichen Entwicklung. Herausgehobene einzelne Menschen wurden nachgeahmt in ihrer Vermittlung des Wahren, Guten und Schönen. Anerzogene Bildungsideale setzten sich in der Kaste der "Begildeten" als Maximen durch. Zweitens führte die ästhetische Erziehung der Europäer zur Bevorzugung von Ideal-Landschaften und Idealstädten wie Italien und Rom, Jerusalem und das gelobte Land, Paris als Bildungsmetropole der Künstler und heute z.B. New York und Berlin als Entwicklungslabore einer modernen Gesellschaft. Besonders die wissenschaftliche und künstlerische Avantgarde brachten ihre Vorlieben für bestimmte Ort der Entwicklung zum Ausdruch; dort konnte man das Neue erleben, den Besten nacheifern. Und drittens ist die ideale ästhetische Haltung immer wieder und immer wieder neu durch "Spielregeln" und die Formulierung von Typen festgelegt worden, etwa die romantische Ideal-Landschaft mit Vorder-, Mittel- und Hintergrund, etwa gut gestaltete, historisch orientierte Architektur bei Boullée, Schinkel oder O.M.Ungers, etwa "gute Gestalt" bei Design-Objekten im frühen Werkbund, z.B. Peter Behrens Lampen und Bestecke, oder die "edle Einfachheit" bei Mies van der Rohe.

Ein Exkurs mag zeigen, wie Goethes Stil-Begriff ebenfalls von mimetischen Qualitäten abhängt. Er nannte einen Maler seiner Zeit gut, d.h. stil-voll, wenn er erstens die Natur gut nachahmen könne und darüber hinaus über eine bedeutende persönliche Manier verfüge. Also: ohne Nachahmung der harmonisch gedachten Natur mochte er keine Stilqualität als bedeutend anerkennen.

 

Mimisis in der frühen Moderne.

Ganzheitliche Harmonie in der künstlerischen Produktion von J.J.Winckelmann und J.W. v. Goethe, auch von Alexander v. Humbold für die Wissenschaft formuliert und seit dem klassischen Humanismus in der bürgerlichen Gesellschaft als Maxime gültig, wird von der Avantgarde der modernen Kunst um 1910, Kubismus, Dadaismus, Surrealismus, angezweifelt. Pablo Picasso, Georg Braque und Max Ernst praktizieren mediale Montage, sie führen schockierende Verzerrungen ein, erzeugen mit Lust Risse, .lieben das Schräge, Zweifelhafte und Unvollständige statt harmonische Ganzheit. Damit allerdings kommt die Imitation als Fälschung ins Spiel, ebenso der Kitsch, das Billige, der Ramsch, die Kopie, das Plagiat...

Zugleich gewinnt die Definition des Modell-Begriffs in Wissenschaft und Kunst an Bedeutung. Nicht nur das Schöne, vielmehr jedes ästhetische Phänomen kann Modell-Charakter haben und die öffentliche Aufmerksamkeit gewinnen, auch das Hässliche, Zerrüttete oder Fragmentarische.

 

Über Roboter und Cyborgs, menschenähnliche Maschinen.

Nicht nur in der Gestalt, sondern auch im Verhalten nähern sich Maschinen dem Menschen an. Nachdem die immense Entwicklung der technischen Welt zunächst, im Barock, das artistische Interesse der Künstler und der Mächtigen hervorgerufen hatte (s. etwa den "schachspielenden Türken" des Barons v. Kempelen, der 1809 gegen Napoleon spielte, der verlor) entstand rasch ein breites Interesse an Automaten, die oft mit menschlichen Zügen ausgestattet wurden, um eindrucksvoll zu wirken. Das Cyborg-Manifest von Donna Haraway entstand 1991, die Kultfigur Lara Croft 1996. In der Folge überschwemmt die Computerindustrie die Welt mit Fan-Artikeln, gehenden, sehenden, spielenden , ja sich selbst steuernden Geräten, die eine Art Einleibung des Körpers in Maschinen darstellen, eine späte Reminiszenz an René Descartes, der 1637 das Maschinen-Verständnis des menschlichen Körpers vorformuliert hatte. Computerlandschaften, virtuelle Welten entstehen als digitale Montagen.

 

Gegenwart.

Heute ist zu bewundern, wie die technische Entwicklung mimetischer Darstellungstechniken fortschreitet. Die digitale Welt bieten mehr und mehr Medien und Steurerungstechniken, die sich zur mimetischen Gestaltung welcher "Wirklichkeit" auch immer anbieten; das gilt für alle Wissenschaften und Künste gleichermaßen. Zugleich wird das Rollenspiel dieser Darstellungsmöglichkeiten zunehmend undeutlicher. Welche Abbildung trifft welches Motiv, welches Urbild, welche Wirklichkeit? Die Zuverlässigkeit der Verweise auf das "Wahre, Wirkliche, Echte" geht verloren. Am Ende gibt es keine "Wahrheit" mehr als die der jeweiligen Darstellung.

Das trifft auch auf Architekturzeichnungen und -Modelle zu. Die meist computergenerierten Darstellungen, in welcher Weise können sie (noch) den Architekturraum als Erlebnisraum treffen, der doch entworfen und gebaut werden soll? Der Bezug zur Sinnlichkeit, zum eigenen Leibraum, geht er den neuen Architekten trotz des medialen Forttschritts verloren? Und die Natur als Erlebnishintergrund, als Licht, Atmosphäre und Umraum des Körpers, kann sie von digitalen Sprachen erfasst werden?

 
    
Referenten-Verzeichnis

Prof. Dr. Jan Pieper, Lehrstuhl für Baugeschichte,T.H. Aachen,
pieper@baugeschichte.rwth-aachen.de

Prof. Andreas Denk, Fachhochschule Köln, Fakultät für Architektur,
andreas.denk@fh-koeln.de

Dipl.-Ing. Georg Ebbing, Vertretungsprofessur Architekturtheorie und Baugeschichte, Hochschule Bochum, Fachbereich Architektur,
georg.ebbing@hs-bochum.de

Prof. Willem-Jan Beeren, Alanus-Hochschule für Kunst und Gesellschaft, Alfter b.Bonn, Lehrgebiet Architektur und Kunst im Dialog,
willem-jan@beeren.net

Prof. Dr.-Ing. Paul Kahlfeldt, Techn. Hochschule Dortmund, Lehrstuhl Theorie und Grundlagen der Baukonstruktion,
paul.kahlfeldt@tu-dortmund.de

Prof. Wilfrid Jochims, Hochschule für Musik und Tanz, Rostock,
jochims-dueren@t-online.de

Matthias Koch, Fotokünstler,
matthias-koch-fotografie@gmx.de

Prof. Dr. Bettina Koehler, Hochschule für Gestaltung und Kunst Basel, Institut Mode-Design,
bettina.koehler@fhnw

Prof. Yongmin Xu, Präsident Hubei Institute of Fine Arts, Hubei, VR China,
jianguo@dckd.org

Prof. Dr. Wolfgang Meisenheimer, Akademie des Deutschen Werkbundes NW
wolfgang.meisenheimer@t-online.de