Wolfgang Meisenheimer

Akademiereihe heft 13

Das Ungefähre Unscharfe Undeutliche – fast beinahe ziemlich

Akademie des Deutschen Werkbundes NW 2011
(Schloss Gnadenthal)

Wolfgang Meisenheimer

Einführung in den Themenkreis

I. Skizze der Geschichte der europäischen Erkenntnistheorie
"Was ist wahr? Was ist wirklich?"


Diese Frage wurde in der magisch-mythischen Vorzeit der europäischen Philosophie nicht rational und eindeutig , vielmehr komplex und irrational gestellt, in einer Mischung von Denken und Dichten, Fühlen und Wahrnehmen. Etwa im Gilgamesch-Epos von Uruk (ca. 2.400 v. Chr.) und bei Homers Ilias und Odyssee in Griechenland (ca. 800 v.Chr.) geben dichterische Mythen Auskunft über das Sein und die Welt. Noch bei Parmenides von Elea (500 v. Chr.) ist ein Teil des rationalen Denkens, das Proömium, das szenische Vorspiel des philosophischen Diskurses, eine Art Göttergedicht. Erst mit Sokrates, dem Lehrer des dialogischen Denkens, dem großen Theoretiker unter den Theoretikern, gewinnt systematisches Fragen an rationaler Schärfe. Sein Schüler Plato gründet die Akademie von Athen (387 v.Chr.) und Aristoteles verschafft den verschiedenen philosophischen Disziplinen die spezifische Bedeutung, die sie das ganze Mittelalter hindurch behalten konnten.Objektivität und Eindeutigkeit sind zu Kriterien der wahren Erkenntnis geworden. Die Welt, als Kosmos geordnet, wird dem Subjekt der Erkenntnis gegenüber vorgestellt; Innenwelt und Außenwelt sind fortan voneinander geschieden. Das Regelwerk der Ordnung des Kosmos ist durch die Konstrukte der Mathematik und Physik, insbesondere Zahlen und Elemente der Geometrie, darstellbar.

Diese Denkvorgänge, die die Ideale der rationalen Erkenntnis gegenüber der diffusen Innenwelt des Menschen betonen, werden von Anfang an allerdings durch andersartige Theoriefiguren begleitet, die die vielschichtige, poetische Innenwelt des Menschen retten wollen, die nach Wiederentdeckung der "Welträtsel" streben, im Mittelalter z.B. die Mystik, die die Besessenheit des einzelnen Ich von göttlichen und höllischen Geistern, also von Gefühlen, pflegt. Nachdem in neuen Wellen der Rationalisierung der Wissensdurst der Renaissance und die Wissenssehnsucht der Barockzeit folgen werden jeweils auch neue Wellen der "Subjektivierung" und "Poetisierung" der Erkenntnis spürbar, die vor der Forderung der Objektivierung, der Eindeutigkeit und Klarheit der Wissenschaften, die komplexen, dunklen Vorstellungswelten retten wollen, also die Innenwelt des Fühlens. So gewinnt in der frühen Neuzeit die Romantik an Bedeutung, die nach Poetisierung der Wahrnehmungswelt strebt und deren subjektiven, künstlerischen Ausdruck sucht, angefüllt mit all ihrer Diffusität, Poetik und Tiefe. Friedrich Hölderlin, Heinrich Heine, Novalis, Caspar David Friedrich und Robert Schumann pflegen die Haltung des Staunens vor der objektiven UND der subjektiven Welt.
Freilich, in der Folge der rationalistischen Philosophie des Descartes (1596-1650), der den Aufbau der wahrnehmbaren Welt für restlos verständlich hielt, setzte sich der radikale Hochmut des Wissenschaftsdenkens in Europa durch, der zur technischen Weltrevolution führte, deren digitale Phase noch heute unser Leben bestimmt.

 

II. Bedeutende Unschärfe-Phänomene in Kunst und Wissenschaft der Gegenwart.
Eine subjektive Auswahl. (Die Anmerkungen sind stark gekürzt.)


Dichtung

  • Paul Valéry, Eupalinos oder der Architekt, 1923, darin: Ambuigität, das Fragmentarische, Poetische, Rätselhafte.
  • James Joyce, Ulysses, 1922, darin: die Fülle der Bewußtseinsnuancen als Roman-Sujet.
  • Marcel Proust, Auf der Suche nach der verlorenen Zeit, 1913-1922, darin: die assoziative Schichtung der Wahrnehmungen und Erinnerungen.


Musik

  • Claude Debussy, Prélude à l´après midi d´un faune, 1894. Primär die Fülle der Klangfarben.
  • Karlheinz Stockhausen. Der Reichtum der erlektronischen Klänge.
  • John Cage. Die Einführung von Geräuschen in die musikalische Komposition.


Malerei

  • Impressionismus. Camille Pissarro, Edouard Manet. Wahrnehmungsphänomene als Bildelemente.
  • Kurt Schwitters. Vielschichtige Collagen zwischen Ding und Poesie.
  • Jackson Pollock. Der Zufall, das geworfene Malmaterial.
  • Gerhard Richter. Das Verwaschene, die Unschärfe.


Plastik

  • Alberto Giacometti, Portraits. Vieldeutigkeit und Unschärfe als Prinzip.


Architektur

  • Bauhaus. Johannes Itten, Moholy-Nagy. Die Empfindung für Materialien als Arbeitsgrundlage im Vorkurs.
  • Wchutemas, Moskau. Die szenische Atmosphäre, Architektur als "soziales Theater".


Wahrnehmungspsychologie

  • Christian v. Ehrenfels, Max Wertheimer, Wolfgang Metzger. "Gestalt-Gesetze" als Annäherungen, als Tendenzen der Wahrnehmung formuliert.


Verhaltenspsychologie

  • Carl Gustav Jung. Ambivalenz-Forschung, Gleichzeitigkeit widersprüchlicher, gegensätzlicher Gefühle.
  • Schizophrenie-Forschung, die die krankhafte Entwicklung der Mehrdeutigkeit untersucht.
  • Sigmund Freud, Traumforschung. Bedeutungsinseln im Erinnerten. Entdeckung des Unterbewußtseins.


Physik

  • Klassische Thermodynamik. Ganzheitsmodell der materiellen Welt. II. Hauptsatz der Th. Zentralphänomene: die Zunahme der Entropie und d ie Annahme reversibler Zeit. "Wenn man die Gegenwart hinreichend kennt, ist die Zukunft voraussagbar." Davon abweichend:


Moderne Mikrophysik

  • Werner Heisenberg, Unbestimmtheitsrelation (1927) in der Welle-Partikel-Forschung.
  • Chaosforschung, Physik hochkomplexer, nicht linearer Systeme. Die Annahme nicht reversibler Zeit.


Mathematik

  • Feigenbaum, Mandelbrod, Lorenz. Rhythmusforschungen zu nicht linearen Fließbewegungen und zur Entstehung komplexer dynamischer Systeme.


Technik

  • Fuzzy-Technik, L. Zadeh. Mathematik der Unschärfe. Lernfähige Algorithmen, sprachgesteuerte Maschinen.


Physiologie/Medizin

  • Ambivalenz der Muskeln: Agonisten/Antagonisten.
  • Substanzpaare gegensätzlicher Wirkung (Bewegung/Ruhe, Wachen/Schlaf, Hunger/Sättigung, Sex: Schmerz/Wollust etc.)


Evolutionstheorie

  • Ilja Prigogine (Nobelpreis Chemie 1977). Erforschung sich selbst organisierender Systeme in der unbelebten Natur. Entwicklung von Systemen höheren Ordnung: Umkehrung der klassischen Thermodynamik. Nachweis von "dissivapativen Strukturen", d.h. Abnahme der Entropie in der materiellen Natur. Nicht-Umkehrbarkeit von Entwicklungsvorgängen.
  • Feststellung von drei Bedingungen zur Entstehung neuer, höherer Ordnung ("Kreativität", "Novum") in der Materie: 1.) Bei festen Grenzen dennoch Offenheit. 2.) Ungleichgewicht 3.) Selbstverstärkung des Systems.

 

III. Facit.
Welche Lehren können wir aus der Erfahrung von Unschärfe/ Undeutlichkeit ziehen? Maximen für die eigene kreative Abeit.


Wir können aus der Entwicklung der Kunst und der Wissenschaft lernen. Es gibt Jahrhunderte alte Erfahrungen mit "Unschärfe" und "Unklarheit", die der Rationalität, der wissenschaftlichen Klarheit entgegenstehen,- eine bedeutende, kreative Gegenwelt. Neben dem Ideal des reinen Rationalismus gibt es andere Ideale, die in Kunst, Wissenschaft und Alltag hilfreich sind, die wir für ein ausgeglichenes, reichhaltiges Leben brauchen, sowohl im Alltag als im Beruf, z.B. beim Planen und Entwerfen! Bei den Ergebnissen der modernen Naturwissenschaft wie denen der Kunst werden drei Bedingungen deutlich, von denen Kreativität, .h. die Entwicklung des Neuen abhängig ist.:

1.) Wir sollten wissen, daß es nichts Endgültiges gibt; die Welt und wir selbst sind nie fertig.
Wir sollten bei der Behauptung von Eindeutigkeit skeptisch sein, "fertige" Wahrheiten ablehnen. Wir müssen zwar Wert legen auf feste Grenzen (unserer Arbeit, unserer Aufgaben, unserer Ideologien), aber unsere Grenzen sollen offen bleiben.

2.) Wir sollten das Ungleichgewicht pflegen. Das Sichere, Fertige, Gleichgewichtige läßt unsere Aktivitäten erstarren. Wir brauchen Ungleichgewicht neben dem Streben nach Klarheit und Rationalität, also Fühlen und Empfinden, Staunen und Ahnen.

3.) Wir kommen nur weiter, werden nur dann produktiv und schöpferisch sein, wenn wir unser Selbstbewußtsein stärken. Wir brauchen die Liebe zum Selbst, das Zutraun zum immer stärkeren Ich.

 

Referenten-Verzeichnis

Prof. Dr. Ulrich Winko, Philosoph, München, F.H. Kaiserslautern

Prof. Thomas Schmitz, Architekt, T.H. Aachen, Lehrgebiet Bildnerische Gestaltung

Prof. Benedikt Stahl, Architekt dwb, Alanus-.Hochschule für Kunst und Gesellschaft, Alfter, Lehrgebiet Entwerfen, Architektur und Städtebau

Prof. Jan Kolata, Maler, T.U. Dortmund, Lehrgebiet Malerei

Prof. Dipl.-Ing. Rebekka Reich, Hochschule Ostwestfalen-Lippe, Detmolder Hochschule für Architektur und Innenarchitektur, Lehrgebiet Szenografie

Dr. rer.pol. Stephan Kufferath-Kassner, Geschäftsführer GKD Gebr. Kufferath A.G., Düren

Prof. Eva Filter, Detmolder Schule für Architektur und Innenarchitektur, Fachbereich 1

Prof. René Harder, Regisseur, Alanus Hochschule für Kunst und Gesellschaft, Lehrgebiet Schauspiel und Film

Prof. Wolfgang Breuer, Komponist, Düren, Staatl. Hochschule für Musik, Aachen Lehrgebiet Jazz

Prof. Dr.-Ing. Wolfgang Meisenheimer, Architekt / Architekturtheoretiker, Düren


 
Inhalt

Wolfgang Meisenheimer / Einführung in den Themenkreis

Thomas Schmitz / Der hellwach-träumende Blick. Poetische Konstrukte von Wirklichkeit in der deutschen Romantik

Benedikt Stahl / Skizzieren als Andeuten – Tasten – Ideen umkreisen

Jan Kolata / Das genaue Ungenaue. Jan Kolata im Gespräch mit Lena Schmidt

Rebekka Reich / Szenografie als »Kunst der Andeutung«. Eine Versuchsanordnung

Stephan Kufferath-Kassner / Drahttuch. Die industrielle Entwicklung technischer Schleier

Detmolder Schule für Architektur und Innenarchitektur (Klasse Prof. Jakob Weinand) / Fragmentarisches Möbel-Design

René Harder / Die Irrationalität von Ausdrucksgesten

Wolfgang Breuer / Das Ungefähre, Unscharfe, Undeutliche am Beispiel der Musik