Wolfgang Meisenheimer

Akademiereihe heft 11

"ARCHITEKTUR ALS SEHNSUCHT"

Akademie des Deutschen Werkbundes NW 2009
(Schloss Gnadenthal)

Einführung in den Themenkreis

Bei der Akademie zum Rahmenthema "Architektur als Sehnsucht" wird Architektur nicht als Objekte-Welt angesprochen, als Welt der gebauten Dinge, vielmehr als Gefühlswelt, d.h. als Innenwelt. Nicht die primäre Wahrnehmung und die Erfahrung der objektiven Dinge stehen im Mittelpunkt, sondern die gemeinten Werte.

Sehnsucht ist - nach Wikipedia - "ein unbefriedigtes, tiefes Verlangen nach jemandem oder etwas, den /das man liebt und /oder begehrt." In den Zuständen der Sehnsucht scheint die Gegenwart aufgeladen durch Vorstellungen von der erlebten Vergangenheit oder der erwünschten Zukunft; es gibt also in der Zeit rückwärts und vorwärts gewandte Arten von Sehnsucht.

  1. Die Sehnsucht nach Vergangenheit.

    Sie will bewahren, erhalten, erinnern. Sie lässt das Erlebte wieder aufleuchten, möchte es wiederbeleben. Zu unterscheiden sind die individuellen, subjektiven Erinnerungen einzelner Menschen von den kollektiven Erinnerungen sozialer und kultureller Gruppen, ja der Menschheit insgesamt. Erinnerungen kommen zur Wirkung, indem sie dargestellt, d.h. in Dingen, Artefakten, verbalen und bildlichen Darstellungen usw. fixiert und vorgeführt werden.

    1. Die individuelle, subjektive Erinnerung des Einzelnen.

      Die Vorstellung vom kürzlich Erlebten, von gestern und neulich beeinflusst jeden Augenblick jedermann. Aber auch Kindheitserinnerungen, Reiseerfahrungen, das Wissen aus der Schulzeit, den Berufsjahren etc. färben die Gegenwart ein. Jedermann hat ein Arsenal von Darstellungen und Erinnerungsstücken angelegt, das ihm hilft, sein Jetzt mit seiner Vergangenheit zu verknüpfen: Fotos, Briefe, Mitbringsel, Bilder und die vielen merkwürdigen Dinge, in denen die Spuren vergangenen Lebens gelesen werden. Die Verknüpfung des Jetzt mit dem Damals liegt in der eigenen Vorstellung; nur der Betroffene selbst ist eigentlich informiert; das Rollenspiel ist nicht fotografierbar.

    2. Die kollektive Erinnerung der Gesellschaft.

      Die Menschheit hat in der Geschichte ihrer Kultur gelernt, verschiedene Arten von Vergangenheit in den Dingen zu lesen. So z.B. das Vergehen der kosmischen Zeit, Entwicklungsperioden, Entstehungszeiten und Alter der Materialien in den Formen und Oberflächen der Dinge, sowohl in der Natur als im Raum der Zivilisation. Steine, Bäume, Tierkörper, Pflanzenwuchs, menschliche Haut usw., aber auch Stühle und Tische, Gebäude und Städte altern. Eine andere Art von Zeitinformation liegt in unserem Wissen von der Funktionalität der Dinge, ihrem Gebrauchswert. Sie geben damit nämlich Auskunft über frühere positive und negative Erfahrungen von Menschen, die ihren Lebensraum gestaltet haben. Die Dinge sind Spuren der Geschichte, verstanden als Vorgänge der Zivilisation. Daneben stehen die Berichte über die Geschichte der Menschheit als Sozialgeschichte, Miltitärgeschichte, Kulturgeschichte usw., die das Schulwissen prägen.

    3. Kunst als Darstellung der Vergangenheit.

      Moden bringen bei Möbeln, Kleidern und Schmuck bestimmte Traditionen zum Ausdruck, d.h. Vorlieben einer kulturellen Gruppe, die man festhalten und pflegen will. In der Kunst spricht man von Stilen (Personalstil, Regionalstil, Zeitstil, Stilgeschichte etc.), um anerkannte Merkmale von Werken zu bezeichnen, die einander ähnlich und Wert sind, beachtet zu werden. Der Bedeutungscharakter von Kunstwerken als Zeichen, Zitate oder Symbole hängt stark von ihren Vergangenheitsbezügen und Erinnerungsqualitäten ab. Romantische Neigungen in der Kunstgeschichte bezogen sich immer schwärmerisch auf historische oder auch ahistorische, poetisch erfundene Vergangenheiten. Historische Phasen sind solche, die Stil-Collagen pflegten, die sich auch widersprüchliche Zeitstile verfügbar machten. Der "Denkmal-Begriff" muss mit seinen wechselnden Wertbezügen in jedem Zeitalter neu formuliert werden.

    4. Architektur zum Verwahren.

      Ein eigener funktionaler Gebäudetypus ist die Architektur, die benutzt wird, Dinge zu verwahren. Das können im Detail Tresor, Truhe, Schrankwand, Speicher sein, im großen Maßstab die Museen, Kuriositätenkabinette, Zoologische und Botanische Gärten, Bibliotheken usw.

      Von den philosophischen Theorien und den bedeutenden Kunstwerken zur Grundlegung der "Sehnsucht-Forschung" seit Beginn der Neuzeit sind wenigstens einige zu benennen, ohne die unsere Gegenwart-Positionen kaum bestimmt werden können . Friedrich Hegel (1770-1831) hat im Verlauf der Kulturgeschichte eine gestalthafte Dynamik gesehen: Thesen und Antithesen lösen einander ab, werden in Synthesen zusammengefügt usw. Auf dieser Grundlage hat z.B. Siegfried Giedion (18881968) die Weltgeschichte der Architektur als einen Wechsel vom plastischen zum räumlichen Denken gesehen, der (in der Moderne Le Corbusiers!) zu einer Synthese führe. Ernst Cassirer (1874-1945) hat die Bedeutungsgeschichte der Vergangenheit als eine Geschichte der symbolischen Darstellungen erklärt. Edmund Husserl (1859-1938) nennt in seiner "Phänomenologie des inneren Zeitbewusstseins" die Einbindung der Vergangenheit in die Gegenwart RETENTION. Vielleicht ist das bedeutendste literarische Werk der Neuzeit, das die Erinnerungsstruktur in den Dingen und Ereignissen beschreibt der Roman von Marcel Proust (1871-1922) "Auf der Suche nach der verlorenen Zeit".

  2. Die Sehnsucht nach Zukunft.

    Utopie. Wunsch. Hoffnung. Ahnung. Erwartung. Sie gibt den Vorstellungen von der Zukunft einen Raum in der Gegenwart. Sie bereitet mögliche Handlungen und Zustände vor. Sie entwirft einen Raum des "noch nicht". Im Bewusstsein der Gegenwart sind Spuren möglicher (und unmöglicher) Welten enthalten.

    1. Der individuelle, subjektive Wunschtraum.

      Ständig sind im Gegenwart-Erlebnis eines Menschen vage Erwartungen enthalten, die die Zukunft betreffen. Sie sind im Verhalten, in Gestik und Mimik enthalten. Es ist, als seien sie von den Dingen ablesbar, von den Gegenständen in meinem Zimmer, meinem Haus, meiner Stadt und meiner Heimat. Urlaubsreisen, Reiseziele, Einkäufe und manche menschliche Begegnungen scheinen die Ahnung der Zukunft in sich zu enthalten, einen utopischen Zug.

    2. Kollektive Wünsche der Gesellschaft.

      Ideologien, politische Systeme, gesellschaftliche Utopien, Parteiprogramme, künstlerische Visionen. Solange sich menschliche Gesellschaft organisiert hat (ökonomisch, militärisch, kulturell usw.) sind Projekte und Entwürfe formuliert worden, die zukünftige Möglichkeiten als noch nicht realisierbare Wunschträume (u-topos ˄̳ Nicht-Ort) festhalten. Manche dieser Viosionen waren träumerisch-phantastisch (z.B. Thomas Morus' Roman "Utopia", 1516), andere wurden zu konkreten Instrumenten der Machtpolitik (z.B. das Revolutionswerk von Marx und Engels).

    3. Architektur als Sehnsucht.

      Kinder zeichnen und bauen Traumhäuser.Jedes Wohnhaus ist der Traum eines Menschen /einiger Menschen, indem es das Leben als Möglichkeit darstellt. Und jede Großstadt (Dubai usw.) präsentiert sich als Traumstadt. Die konkreteste Ebene des Träumerischen ist die in den Dingen sich anbietende Funktionalität, d.h. die Verfügbarkeit für zukünftige Handlungen. In Moden und Stilen werden liebgewordene Wünsche fixiert. Die Gebäudetypologie hält bewährte Standardformen als Potential für die Zukunft fest. O.M. Ungers betrachtete die Pflege der Modelle als vornehmste Aufgabe der Architekturlehre.

    4. Die experimentelle Suche nach der Zukunft.

      Jeder "Entwurf", jeder "Plan" ist die Darstellung einer experimentellen Annäherung an die Zukunft. Avantgardebewegungen (vor allem beim Beginn der Moderne, beim Anfang des XX. Jahrhunderts) haben in ihre Entwürfe ausdrücklich Formen, Materialien und Wirkungen einbezogen, die mit den Mitteln der Zeit eigentlich (noch) nicht realisierbar, aber doch denkbar waren. Zu solchen Anstrengungen gehören alle Architektur- und Design-Wettbewerbe und auch pädagogische Versuche wie z.B. das (Düsseldorfer /Wiener / Detmolder /Alfterer) Raumlabor, d.h. provisorische Raumanordnungen, die gewünschte, aber noch nicht beherrschte Wirkungen im architektonischen Raum erforschen.

      Von den philosophischen, wissenschaftlichen und künstlerischen Theorien, die in diesem Sinne der Zukunftsforschung dienen, waren einige bis heute besonders wirkungsvoll. Sigmund Freud (1856-1939) hat den Traum und die unbewussten Anteile des Fühlens hervorgehoben. Triebe, die es nur in der Vorstellung gibt, treten durch Affekte hervor, und diese prägen Handlungen und Werke. Husserl nannte die Ahnung der Zukunft in der Gegenwart PROTENTION. Vielleicht war Friedrich Nietzsche (1844-1900) der Philosoph, der die Erwartung der zukünftigen Welt in seinem "Zarathustra" am dramatischsten formuliert hat. Das wichtigste Werk solcher Art in unserer Zeit ist Ernst Bloch (1885-1977), Das Prinzip Hoffnung.

      Zum Abschluss: ich erlaube mir, der Akademie ein "Manifest" vorzutragen, das mein persönliches Statement zum Stand der Dinge formuliert, d.h. zur Aufgabe der Architektur als Sehnsucht-Welt. Wer zustimmt möge mit unterzeichnen. (W.M. trägt mit Hut sein Manifest vor.)



      MANIFEST

      FÜR EINE EMOTIONALE ARCHITEKTUR,

      EINE ARCHITEKTUR DER SEHNSUCHT



      ARCHITEKTUR MUSS ÜBER DIE BLOßE ZWECKMÄSSIGKEIT HINAUS ETWAS AUSDRÜCKEN.

      PRAGMATISMUS IN DER ARCHITEKTUR IST UNWÜRDIG.

      OEKONOMISMUS IN DER ARCHITEKTUR IST UNWÜRDIG.

      ARCHITEKTUR MUSS KÖRPERLICH ERLEBBAR SEIN: SYMPATHISCH.

      DER MEGAMAßSTAB DER GROßSTÄDTE IST DURCH SENSIBLE KULTIVIERUNG DES NAHRAUMES ERTRÄGLICH ZU MACHEN.

      EMOTIONALE ARCHITEKTURLANDSCHAFTEN MÜSSEN VERSCHIEDENE AKZENTE BEKOMMEN: PATHOS UND INTIMITÄT; ERHABENES WIE IDYLLISCHES; BERUHIGENDES WIE ERREGENDES USW:

      DAS WOHNEN IST VORRANGIG UNTER ALLEN FUNKTIONALEN ZONEN.

      INNENARCHITEKTUR AN DIE FRONT! AUCH IM STÄDTEBAU!

      DIE ARCHITEKTUR DER SEHNSUCHT SCHLIEßT IN DAS ERLEBNIS DER GEGENWART RÜCKWÄRTS- UND VORWÄRTSDIMENSIONEN EIN, VERGANGENHEIT UND ZUKUNFT, ERINNERUNG UND UTOPIE.

      KUNST UND SPIEL GEHÖREN ZU DEN WICHTIGSTEN STRATEGIEN DES LEBENS, GENAUSO WICHTIG WIE ARBEIT UND LEISTUNG.

      IHRE WÜRDE IST IM ÖFFENTLICHEN RAUM WIEDER HERZUSTELLEN.


 
Gnadenthal, 15. Mai 2009

 
    
Referenten-Verzeichnis

Maike Häber, stud. IA, F.H. Detmold, maike.haeber@gmx.de

Dr. Manfred Osten, Bonn, Schriftsteller, manfred.osten@t-online.de

Bertold Mohr, Maler, Unterbach, wandmalerei@atelier-mohr.de

Dr.med. Mathias Hirsch, Arzt, Psychologe, Düsseldorf, mathias.hirsch@t-online.de

Prof. Andreas Fritzen, Architekt, Stadtplaner, Köln, F.H. Bochum, infofritzen@t-online.de

Prof. Martin Hofmann, Human- und Sozialwissenschaftler, Freiburg, F.H. Detmold, m.l.hofmann@gmx.de

Prof. M.A. Marco Hemmerling, Architekt, FH Detmold, CAD/Computer Aided Design, marco_hemmerling@hotmail.com

Prof. Thomas Wagner, Dipl.-Kommunikationsdesigner, F.H. Kaiserslautern, F.B. Bauen und Gestalten, Studiengangsleiter, virtual Design, thomas.wagner@fh.kl.de

Prof. Dr. Wolfgang Meisenheimer, Leiter der Akademie, Architekt, wolfgang.meisenheimer@t-online.de