Wolfgang Meisenheimer

Akademiereihe heft 10

"Augenblick und Ewigkeit. Die Architektur und die Zeit."

Akademie des Deutschen Werkbundes NW 2008
(Schloss Gnadenthal)

Einführung in den Themenkreis

  1. Grundpositionen und Begriffe zur Analyse von Zeit.
    Sinnlich wahrnehmen kann ich nur die Gegenwart, d.h. den Erlebnisstrom JETZT; genau genommen nur den jetzigen Augenblick. Alles andere (Vergangenheit, Zukunft, Erinnerung Erwartung) existiert nur in meiner Vorstellung oder „der Idee nach“...Aber: die Wahrnehmung, das Jetzt, die Gegenwart ist ständig vermischt und angereichert mit Anteilen der Vergangenheit (Husserl: retention) und der Zukunft (Husserl: protention).

  2. Wenn wir uns Mitteilungen machen wollen über Zeiterlebnisse oder Zeitideen –jeder von uns, nicht nur die Künstler, so müssen wir Darstellungsmöglichkeiten dafür finden. Das aber ist extrem schwierig, viel schwieriger als die Darstellung von Raum-Phänomenen. Dort fällt es uns leicht, Darstellungstechniken zu entwickeln, etwa Zeichnungen, Grundrisse, Perspektiven, Fotos, dreidimensionale Modelle, Fotos und vervielfältigte Fotos, eben Filme. Sind aber nicht die Ähnlichkeitsdarstellungen im Film im Wesentlichen wieder Bilder, d.h. Elemente mit räumlicher Charakteristik?

  3. Versuch einer Typologie von Zeit-Darstellungen.
    Es gibt zwei voneinander grundsätzlich verschiedene Möglichkeiten, den Verlauf der Zeit darzustellen:

    1. Darstellungen vom Typ VORHER-NACHHER oder auch FRÜHER-SPÄTER. Dabei geht die Analyse von Zeit als Erlebnisphänomen aus; ein Erlebnissubjekt erfährt die zeitliche Ausdehnung um ein Erlebnis, ein historisches oder persönliches Erlebnis herum.... Hier ist Zeit subjektbezogen.

    2. Darstellungen vom Typus NACHEINANDER. Dabei werden (abstrakte) Zeitelemente, -phasen usw. nacheinander linear angeordnet, unabhängig von einem Erlebnissubjekt und seinem Jetzt. Die Erfindung der chronometrischen Zeit und ihrer Messung durch Uhren ist das berühmteste Beispiel dieser Art.

  4. Aus dem phantastischen Panorama der kulturellen Erfindungen, Ideen und Kunstwerke dieser Art, nämlich der Konstrukte zur Darstellung von Zeiterlebnissen, Zeitideen und Zeitvorstellungen möchte ich ohne besondere Reihenfolge einige der wichtigsten andeuten.

    1. Magisch-mythische Ideen, Prozeduren, Performances zum „Leben nach dem Tode“, z.B. die Hindu-Vorstellung der „ewigen Wiederkehr“.

    2. Darstellungen zum erwarteten „Weltuntergang“, Apokalypse usw., meist religiöse Drohbilder – besonders im christlichen Geschichtsraum.

    3. Ideen, Bilder, Modelle zum „Weltenanfang“, z.B. die moderne Theorie des BIG BANG.

    4. Die Konzeption der „chronometrischen Zeit“, die messbar und durch Geräte darstellbar ist, vom Erlebnissubjekt unabhängig und eben dadurch leistungsfähig. Sie wurde zum Hintergrund der Entwicklung von Physik und Mathematik im Bereich der Naturwissenschaft und Technik.

    5. Konzeption und Darstellung einer „göttlichen Ewigkeit“. Religiöse Darstellungen literarischer, bildlicher und szenischer Art. Das Festhalten „einzigartiger, fruchtbarer Augenblicke“ (G.E.Lessing) im Leben des Menschen. Sehr früh dazu die griechische Idee des Kairos.

    6. Ausstieg aus der Erlebniszeit durch Kunstwerke, Aktionen und Prozeduren.

    7. Ekstatische Darstellung des flüchtigen Jetzt in Religion, Tanz, Musik usw. Derwisch-Tänze z.B.

    8. Die Dokumentation von „Dauer“ in den Formen der Poesie, der Architektur etc. durch meditative Gärten, Klöster usw.

  5. Philosophische Entwürfe von Zeit-Ideen.

    1. In den frühen Hochkulturen Indiens, Persiens usw. entstand das Kreislauf-Modell der Zeit. Wie die Uroburos--Schlange ihren Schwanz frisst, so kehrt die Zeit in Kreisbewegungen zu ihren Ursprüngen zurück. Die mythische Idee zyklischer Wiederholung.

    2. Parmenides v. Elea hebt das wahre Sein (das göttliche) vom Nicht-Sein (im Verlauf der Alltagsdinge) ab.

    3. Plato dichtet im Timaios die (göttliche) Unsterblichkeit als Idee, von der menschliches Werk nur ein Abglanz sein kann.

    4. Aristoteles formuliert Zeit als Maß der Bewegung, d.h. als eine Struktur der Naturdinge.

    5. Immanuel Kant leitet in Europa eine „“kopernikanische Wende“ im Verstehen von Zeit ein. Nach seinem transzendentalen Verständnis ist Zeit nicht eine Eigenschaft von Dingen oder Göttern, sondern eine Anschauungsform DES MENSCHEN, ohne die keinerlei Welterkenntnis möglich ist.

    6. Henri Begson spricht von durée (Dauer), wenn er die Erlebbarkeit von Zeit beschreibt, also die Inhalte psychischer Erfahrung.

    7. Martin Heidegger hebt Da-Sein von So-Sein ab und unterscheidet Arten von Existenz.

    8. Von Henri Merleau-Ponty wird Zeit als eine Sinndimension beim Erlebnis des Leibes verstanden.

    9. Paul Virilio und andere postmoderne Philosophen Frankreichs charakterisieren die aktualen Formen der MODERNE als exzessive Entfaltung von Bewegung und Geschwindigkeit. Die „panische Stadt“ geht dem Menschen geradezu in zeitlichen Explosionen verloren.

      Sicher lässt sich für modernes Denken über Zeit sagen, dass Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft nicht mehr „additionistisch“ vorgestellt werden. Vielmehr sind Vergangenheit und Zukunft wie EINFÄRBUNGEN der Gegenwart zu verstehen; sie sind handlungsbezogene Ordnungen, die nur in Abhängigkeit voneinander Sinn haben.

  6. Die Architektur und die Zeit

    Die Architektur ist wie ein Bilderbuch lesbar, in dem viele dieser Zeiterlebnisse und Zeitideen dargestellt worden sind. Die Akademie 2008 soll einige dieser Architekturtypen zeigen und ihren jeweiligen „Zeitcharakter“ deutlich machen.

    1. Innenarchitektur, die eine Verlangsamung des Alltagslebens bewirkt... beim Wohnen, in Klöstern, Ferienhäusern etc., besonders auch durch ihre Angebote zum Sitzen und Liegen, d.h. gestische Haltungen, die der Hektik von Körperbewegungen entzogen sind.

    2. Bauten, die Höhepunkte der Geschichte präsentieren, z.B. das Pantheon, Rom, der Arc de Triomphe, Paris oder das Brandenburger Tor.

    3. Architektonische Ensembles, die wie Archive früherer Zeiten verstanden werden, z.B. Hadrians Villa in Tivoli, die geradezu eine Sammlung von Reiseerinnerungen des Kaisers ist oder die Ringstraße in Wien, die ein historistisches Archiv ist, das dem Geschichtsbild des bürgerlichen Wien im XIX. Jahrhundert entspricht.

    4. Ruinen, lehrreiche Reste historischer Bauten, z.B. das römische Xanten.

    5. Bauwerke, die theaterhaft auf Höhepunkte des Lebens verweisen wie etwa das Tadsch Mahal, ein architektonisches Bild der Bewunderung, die der indische Kaiser Shah Jahann um 1650 seiner Geleibten Mumtaz Mahal errichten ließ, als sie 38-jährig starb.

    6. Bauten, die als Modelle für Zeitbegriffe verstanden werden können, z.B. die ägyptischen Pyramiden und die griechischen Labyrinthe. Die Cheopspyramide war nicht nur ein Grabmal, sondern auch ein kosmologisches Instrument, das mit seiner vergoldeten Spitze täglich den Sonnenaufgang früher anzeigte als irgendein materieller Körper der Erde, d.h. Ägyptens.

    7. Gebaute Dinge, die schnellen Abläufen dienen, z.B. Bahnhöfe, Kikoske, Markstände etc.

    8. Bewegliche Bauten: Schiffe, Flugzeuge, Autos etc.

    9. Bühnenarchitektur, Filmarchitektur. Sie kann verschiedenartige architektonische Charaktere rasch nacheinander und nebeneinander vorführen und verschwinden lassen.

    10. Eine Stadtbau-Typologie nach Zeit-Kriterien wurden von Fumihiko Maki (vergeblich) für Tokio vorgeschlagen
      Drei Bautypen seien räumlich voneinander zu trennen:
      a) Bauten für den raschen Gebrauch (Verkehrsbauten, Läden, Kioske etc.),
      b) Bauten für 1-3-Stunden-Gebrauch (alle kulturellen und Sportbauten wie Kinos, Theater, Stadien etc.) sowie
      c) Bauten für lang andauernden Gebrauch (Wohnen und Arbeiten).

Zum Schluss ein Literatur-Hinweis in eigener Sache. 1993 schrieb ich in DAIDALOS 47 „Über die Schwierigkeiten, Zeit im Raum darzustellen“.


Referenten-Verzeichnis

Prof. Dr. Wolfgang Meisenheimer, Architekt, Architekturtheoretiker, Düren

Dr. Peter Foos, Philosoph, Kunsttheoretiker, Uni Köln

Prof. Dr. Roland Günter, Kunsthistoriker, Denkmalpfleger, Kulturphilosoph, 1. Vors. DWB NW, Oberhausen,

Dr. Johan Frederic Hartle, Philosoph, Köln/Rom

Hans-Martin Scholder, Bühnenbildner, Szenograph, Regisseur, Frankfurt

Prof. Ulrich Nether, Innenarchitekt, FH Detmold

Dipl.-Ing. Christoph Janiesch, Architekt, Filmer, Hamburg

Dipl.-Ing. Georg Verhas, Landschaftsplaner und Architekt, Düsseldorf

Dipl.-Ing. Ulrike Kerber, Innenarchitektin, Osnabrück/Detmold

Prof. Harald Gräßer, Lichtplaner, Innenarchitekt, Wiesbaden/Detmold


Inhalt:

Wolfgang Meisenheimer /Einführung in den Themenkreis.

Peter Foos /Zum Zeitbegriff, philosophisch.

Chronos und Kairos. Griechische und andere Denkfigurgen.

Roland Günter /Bilder der Erinnerung. Ideen zur neuen Denkmalpflege.

Johan Frederic Hartle /Zeitgeist, yet to come.

Hans-Martin Scholder /Damit die Zeit nicht stehenbleibt. Bühnenarbeit. Szenenwechsel.

Ulrich Nether /Architektur für die flüchtige Zeit. Kioske, Messestände und dergleichen.

Christoph Janiesch /Räume für 30 Sekunden. Filmarchitektur.

Ulrike Kerber /Architektur „für den dauernden Aufenthalt von Menschen“, was heißt das überhaupt?

Georg Verhas /Die Ewigkeit im Augenblick. Wie die französische Gartenkunst die flüchtige Zeit anhält.

Harald Gräßer /Zeit im kosmischen Raum. Das Spiel der Baukörper im wechselnden Licht.