Wolfgang Meisenheimer

Akademiereihe heft 2

Architektur hören / Architektur tasten

Werkbundakademie 2000, Gnadenthal

Inhalt:   

Wolfgang MeisenheimerEinführung in den Themenkreis
Jörg LensingDie Ohren, das Hören (Grundlagen)
A.W. MellinghoffRäume, fürs Hören geeignet. Grundlagen der Raumakustik
Burkhard FraseDer frühe Aufbau der Raumwahrnehmung bei Kindern. Pschophysiologische Grundlagen, praktische Erfahrungen
Axel SimonSinnliche Wahrnehmung im Zeitalter des Cyberspace
Helga KleinenDas Hören, der Hörraum (Grundlagen)
Jörg LensingAuditorium. Hören im Raum. Künstlerische Dimensionen
Thomas NeuhausZu "Raum" in elektroakustischer Musik . (Im Rahmen eines Konzertes mit elektroakustischer Musik.)
Eva FilterDie Tiefe der Oberfläche, Material und Raumgefühl. Erfahrungen, Entwürfe, Thesen
Kazuhisa KawamuraWahrnehmungen im Teeraum
Marlis GrüterichResonanz - Lebensprinzip und Anthropologie der Künste

     
Referentenverzeichnis:

Prof. Jörg Lensing, Komponist, Theaterleiter Düsseldorf, Dipl.-Ing. A.W. Mellinghoff, Raumakustiker, Düsseldorf, Dr. Burkhard Frase, Facharzt für Kinderheilkunde, Münster, Axel Simon, Dipl.-Ing. Architekt, Helga Kleinen, Schule des Hörens, Köln, Thomas Neuhaus, Komponist, Essen, Prof. Dipl.-Ing. Eva Filter, Innenarchitektin FH Detmold, Prof. Kazuhisa Kawamure, Architekt, Köln, FH Mainz, Prof. Dr. Marlis Grüterich, Kunsthistorikerin, FH Köln.
    
Einführung in den Themenkreis

Der bei weitem größte Teil unserer sinnlichen Wahrnehmungen – auch des Hörens und Tastens – ist funktionalisiert, d. h. an Situationen, Handlungen und Dinge gebunden, die zweckmäßig mit unserem Leben verbunden sind. Dieser Anteil an Erlebnissen ist weitgehend rationalisiert, z.B. auch beschreibbar. Daneben aber gibt es die ungeordnete, komplexe Wahrnehmung der leiblichen Welt, hoch emotional, fragmentarisch, voller unbestimmter Erinnerungen und Stimmungen, die (noch) keiner Handlung, keinem Ding kausal zugeordnet ist, das ursprüngliche, elementare Spielmaterial unseres denkenden Leibes. Denn der Leib denkt, sinniert und erinnert sich ununterbrochen – auch unabhängig vom «Sinn des Lebens» hier und jetzt. Diese elementare Wahrnehmung ist synästhetischer Art, d. h. alle Sinne sind beteiligt, sie ist hoch komplex und füllt so den eigentlichen, den «offenen» Lebensraum, während die kausal gebundenen Wahrnehmungen, Erinnerungen und Wünsche den engeren «Handlungsraum» mit ihren Materialien bedienen, den Raum der identifizierten Dinge, Zeichen und Handlungszusammenhänge.

Es geht bei der elementaren Erlebniswelt zunächst um Stimmungen und Atmosphäre, spontane Konstrukte aus Leib- und Reizwelt. Das Seminar soll die Rolle der Ohren beim Entstehen der Erlebniswelt – auch des Architekturraumes – verstehen und entdecken helfen. Dabei werden drei Arten von Beiträgen angeboten:

  1. physiologische Grundlagen
    (Genetisches, Artspezifisches wie es bei allen Menschen gegeben ist),

  2. entwicklungspsychologische Grundlagen
    (Vorgeburtliches, Kinderzeit, Phasenentfaltung)

  3. kulturelle Entwicklungen
    (Technische Akustik, musikalische Entwicklung des Hörraums, architektonische Entwicklung von Hörräumen).


Erste Bemerkungen über das Hören und den Hörraum

Bei jedem Menschen gibt es zwei Ohren, nicht eines. Das bedeutet, die Haltung
des Kopfes und des Körpers im Raum ist für die Entstehung der Hörerlebnisse
konstitutiv, sie ist von vornherein wirksam und kommt nicht nur zum Höreindruck hinzu. Das heißt auch, das Hören ist in die Situationen des Leibes, in seine Handlungsabläufe eingefügt. Anatomisch sind Hörsinn, Lage- und Gleichgewichtssinn im Innenohr unmittelbar benachbart. Dies ist wieder ein Hinweis auf die unlösbare Verknüpfung von Hören und Leben: wir müssen den Leib als ein ganzheitliches Wahrnehmungs- Handlungs-System begreifen. Ferner: Der Hörraum umgibt mich (anders als der Sehraum), er liegt nicht (begrenzt) vor mir. Eine Art Höratmosphäre hüllt den ganzen Leib ein, der sich ihr nicht entziehen kann. Die Ohren lassen sich nicht schließen... Das Lernen der Bedeutung von Phaenomenen im Hörraum geschieht lebenslänglich im Gesamtzusammenhang mit Leibhandlungen. Schon vor der Geburt sind angeborene genetische Muster individuell wirksam, sie steuern bereits die
Empfindungen von Angst und Geborgenheit, Enge und Weite. Erich Blechschmidt (Wie beginnt das menschliche Leben, 89) und Frederic Vester (Leitmotiv vernetzes Denken, 88), zeigen, wie etwa bis zum sechsten Monat nach der Geburt biologische Prägungen als Ergänzungen des genetischen Materials möglich sind. Der Mensch wird vertraut mit seiner Umwelt, Langzeit- und Kurzzeiterfahrungen synaesthetischer Art strukturieren die ersten Spielräume des Lebens. Die Erfahrung wird dann stärker verbal-abstrakt untermauert, isolierte Begriffsgebäude beherrschen mehr und mehr die sinnlichen Wahrnehmungen und das Lernen. Das ist in der zivilisatorischen Entwicklung kritisch zu sehen; die durch rationale Systeme bestimmte Wirklichkeit ist eben NICHT die volle Wirklichkeit des wahrnehmenden und denkenden Leibes! Vester: «Das Urteilsvermögen wird verstümmelt, unser Gehirn zu einem winzigen Teil seiner selbst degradiert!» Was wir brauchen ist ein vernetztes Denken, in das nicht nur das Ursache-Wirkungsdenken bestimmter Gehirnzellen einbezogen ist, sondern der ganze, denkende Leib mit den überlagerten Potentialen seiner vielen Organe, nur so werden sinnliche Erfahrungen, Zukunftserwartung und Erinnerung in das Hier und Jetzt einbezogen, nur so entsteht das offene «Spiel des Lebens».

 
Andeutungen zur Geschichte der Architekturtheorie, insbesondere über das Verhältnis der Architektur zur Musik

Im europäischen Kulturraum hat Pythagoras (ca. 570-500 v. Chr.) ein Urphaenomen der «harmonischen Ordnung» am Monochord aufgezeigt; schöne Tonqualitäten, Oktave, Quinte etc. und bestimmte Zahlenverhältnisse (1:2, 1:3, 1:4 etc.) wurden einander zugeordnet. Seitdem hing – in der Tat bis ins Mittelalter hinein – das Weltverständnis an der mysthischen Überzeugung, die Welt sei in Ordnung, wenn das Akustisch- Sinnfällige, das Gebaute und die Mathematik übereinstimmen. Man war tief beunruhigt, wenn diese auseinanderklaffen. So galten bis zum 17. Jhdt. die Proportionen als metaphysische Begründung der Weltharmonie und deshalb als entscheidender Maßstab des Schönen und des Wahren und zwar gleichermaßen bei Architektur und Musik.

 
Neuzeitliche «Konsonaz-Theorien»

August Thiersch (Die Proportionen in der Architektur, 1883) und Heinrich Wölfflin
(Prolegomena zu einer Theorie der Proportionen, 1886) gehen von der Frage aus,
wie es möglich sei, daß architektonische Formen Ausdruck des Seelischen, etwa einer Stimmung sein können. Ihre Überlegungen kulminieren in der These, die ästhetische Anschauung übertrage die intimsten Erfahrungen unseres Körpers auch auf leblose Natur, auf Materialformen, eben auch auf Baukörper. Eine gewisse Analogie von Ausdrucksempfindung bei Architekturformen und Leiberfahrung wird beschworen. Hans Kayser (Akroasis, Weltanhörung) verankert diese elementare Leiberfahrung vor allem im Hörraum. Le Corbusier und Xenakis haben dann versucht, auf der praktischen und der Theorieebene Architektur und Musik in Fortführung der antiken Thesen wieder miteinander zu verknüpfen (Philips-Pavillon der Weltausstellung Brüssel, 1958 und Modulor, 1951).

 
Experimentelle Arbeiten der Gegenwart zur Darstellung von Hörraumen

Bernhard Leitner formuliert (z.B. in DAIDALOS 17, Der hörbare Raum) die Grundeinsicht, daß im Zeitalter der Elektronik prinzipiell an jeder Stelle des Raumes jedes Klangphaenomen technisch herstellbar ist. Wo aber und wann ist welcher Klang erwünscht, sinnvoll, heilsam, ausdrucksvoll oder schön? Dies ist nicht sosehr eine Frage an die Tontechniker oder Raumakustiker, sondern an die Raumgestalter und -Nutzer, an die Architekten und die modernen Musiker als Raumtonerfinder. Die ganzheitliche Situation aus Architektur und Ereignis, Position und Bewegung. Leib- und Objektwelt macht erst den Sinn des Hörraums als Szene.
Technisch kann man inzwischen die Akustik von der Architektur lösen, Hamburger Hafengeräusche sind auf der Kölner Domplatform machbar. Jede architektonische Form kann man – wann auch immer – mit jeder Akustik überlagern. Die Wunschphantasien des Athanasius Kircher (1601-1680), der erste Illusions-Maschinen zur Übertragung und Verfremdung von Geräuschen entworfen hat, sind längst in hundertfacher Steigerung erfüllt. Umso unsicherer sind die Entwerfer, wo und wann Illusionierung des Hörraums angemessen ist und wie andererseits die originären, eigenen Klangqualitäten gebauter Situationen gefunden und gesteigert werden können. Welche Hörstimmung braucht ein meditativer Raum, – er soll ja still, aber nicht schalltot sein, und welche Höratmosphäre ist für eine öffentliche Promenade am Sonntag Nachmittag erwünscht?
Die Arbeit am Architekturraum als einem zu hörenden, zu tastenden, zu spürenden Raum wird eine synaesthetische sein. Das Erzeugen von Atmosphären, die lähmend oder erfreulich, langweilig oder erregend, abstoßend oder ideenhaft stimulierend sein können, ist als die schwierigste aller Entwurfsaufgaben jedermann deutlich, der Einsatz der Mittel aber, die dahin führen, ist weitgehend dilettantisch und unklar. Mancherlei Anregungen – auch zur Gestaltung von Hörräumen – kommen aus der Arbeit der avantgardistischen Kunst: Fragestellungen am Rand des Alltags, häufig auch als Ironisierung des «Gewöhnlichen». So wird die Übereinstimmung von Ort und Geräusch irritiert, wenn Wasserfälle auf einem Marktplatz brausen, Nachtvögel bei Tage singen, Naturgeräusche ein Kaufhaus verzaubern usw.. Ort- und Zeitverschiebung
lassen dabei das Artifizielle der Präsentation bewußt werden und verschaffen der Darstellung einen ungewöhnlichen Ausdruck. Dabei spielen Geräusch-Collagen, Richtungsspiele, Lautheitverzerrungen etc. eine wichtige Rolle. Die Lust am willkürlichen Spiel führt zu seltsamen Kontrasten widersprüchlicher
Sinneseindrücke, «unmögliche» Überlagerungen, quasi «perspektivische» Reizeffekte setzen die Hörer / Betrachter / Benutzer in Erstaunen, erregen Belustigung undÄrgernis. Solche künstlerischen Spiele mit seltsamen Erlebnismöglichkeiten führen dann wieder –mit den total ausgeweiteten technischen Mitteln elektronischer Herstellung und Wiedergabe – zu Kompositionen der neuen e-Musik und insbesondere der Filmmusik. Umso dringender, aber schwerer zu formulieren werden die Fragen der Angemessenheit der «Komposition» sinnlicher Elemente in bestimmten Architektursituationen.
Denn das ist inzwischen überdeutlich: in einer Zeit der All-Verfügbarkeit
elektronischer Effekte sind der menschliche Leib und die ihn (zum mindesten temporär) umschließende Architektur der letzte verläßliche Ort des Selbst. Die Architektur hilft dem sich in Informationen auflösenden Menschen, seinen Leib auf der Erde und im Kunstraum zu verankern, hier und jetzt festzumachen. Nur in seinem Leib und der umhüllenden Architektur kann er sich wiedererkennen und seines Selbst sicher sein...

Gegen diese Erkenntnis arbeiten allerdings einige «technische Propheten»
auf verhängnisvolle Weise, z.B. Hans Moravec (*1948, Leiter eines Computerlabors in Pennsylvania, USA). Als Propagandist einer totalen Cyberspace-Kultur erklärt er kindlich übermütig, der Mensch brauche keinen Körper mehr, die Kultivierung der Sinne habe keine Zukunft, denn das menschliche Gehirn verfüge nur über 10 Mio MIPS =Million Instructions Per Second, die Computer aber verdoppelten alle zwei Jahre ihre Leistung. Zu welch unsinnigen Konsequenzen doch funktionales Denken führt! Denn ohne Leib-Welt ist keine Welt, auch keine Computer-Welt.