Wolfgang Meisenheimer

Akademiereihe heft 6

"Körperverlust und architektonischer Raum"

Werkbund-Akademie 2004, Kronenburg

Inhalt:   

Prof. Dr. Wolfgang MeisenheimerEinführung in den Themenkreis
Prof. Dr. Rudolf zur Lippe„Leib und Raum“ Übungen und Rundgespräch
Prof. Dr. Roland GünterBemerkungen über „architektonische Körperbilder“.
Anthropomorphe Gestaltung
Detlef ZillesInformationen, Gespräch
Prof. Dr. Thorsten ScheerDer nackte Baukörper. Gottfried Sempers Architekturtheorie als „Verkleidungstheorie“
Prof. Anton PasingOb die digitale Darstellung den Körper aus der Architektur verschwinden lässt
Dipl.-Ing. Eva SchonsRäume für Bade-Kultur
Dipl.-des. Janine KulbrokEinhüllen, Enthüllen, Verhüllen
Dr. Anna BlumeÜber die Neue Phänomenologie von Hermann Schmitz (eine Philosophie des Leibes)

Referenten:

Prof.Dr. Wolfgang Meisenheimer (Architekt, Architekturtheoretiker) Leitung Akademie DWB NW, Düren, Prof. Dr. Rudolf zur Lippe (Kulturphilosoph, Pädagoge), Oldenburg, Prof. Dr. Roland Günter (Kunsthistoriker, Kulturphilosoph) (Vorsitzender DWB.NW), Oberhausen, Detlef Zilles (Bodybuilding, Deutscher Meister 2001), Kreuzau, Prof. Dr. Thorsten Scheer (Kunsthistoriker), Essen, Prof. Anton Pasing (Architekturtheoretiker), Düsseldorf, Dipl.-Ing. Eva Schons (Architektin), Düsseldorf, Dipl.-des. Janine Kulbrok (Mode-Designerin), Berlin, Dr. Anna Blume (Philosophin), Hamburg
     
Einführung in den Themenkreis

Der Blick zurück

In den „zehn Büchern über die Architektur“ des Vitruvius Pollio, 33 – 14 v. Chr. geschrieben, finden sich die berühmten Hinweise auf unwandelbare Naturgesetze und die schöne, mathematische Harmonie des menschlichen Körpers, denen die Architektur zu folgen habe und die das ganze Mittelalter hindurch und bis in die Neuzeit hinein die oberste Richtschnur der Architekturästhetik blieben. So erklärte Alberti 1510 z.B. in der Nachfolge Vitruvius, die am menschlichen Körper ablesbaren Proportionen seien solche umwandelbaren Naturkonstanten. Ähnlich formulierte Filarete, 1400 in Florenz geboren, sein Wunschbild für Architektur anthropomorph, der Kopf sollte als Modul gelten. Direkte Gestaltanalogien zeigen auch die Zeichnungen Giorgio Martinis, und Andrea Palladio bezog die Schönheit seiner Bauten in Vicenza und Venedig auf die unversehrte Ganzheit des Körpers.

In dieser Tradition sprach auch die französische Variante des Humanismus (etwa Marc Antoine Laugier, 1713 – 69 und Étienne Louis Boullée, 1728 - 93) von „bon goût“ im Architekturentwurf und meinte damit die Nachahmung der Natur in stimmigen, beeindruckenden Bildwirkungen. Und die deutschen Humanisten, etwa Winkelmann, 1717 – 68, Goethe, Karl Friedrich Schinkel und das ganze bürgerliche 18. Jahrhundert verstanden den intakten harmonischen Körper, wie er in der griechischen Klassik dargestellt wird, als „Ort des Natürlichen“, er sollte auch der Architektur als Vorbild dienen.

Die Idealisierung der Natur und des menschlichen Körpers spielten sogar bei der Konzeption wichtiger aesthetischer Systeme der frühen Moderne eine bedeutende Rolle, so zum Beispiel bei den „Organismusvorstellungen“ Rudolf Steiners (1861 – 1922) und seiner anthroposophischen Architektur in Dornach, bei Frank Lloyd Wrights (1867 – 1959) schwärmerischen Kampf um das „Organische“ einer neuen amerikanischen Stadtarchitektur und Le Corbusiers (1887 – 1965) Entwurf des Modulor als Entwurfsmaßstab, der an bevorzugten Proportionen des menschlichen Körpers orientiert sei, aber auf alle Arten von Architektur angewandt werden sollte, Wohn- und Kongresshäuser, Einbaumöbel und ganze Städte. Günter Feuerstein (Wien) und Jan Pieper (Aachen) sprechen vom nie endenden Anthropomorphismus – auch in der Architektur der Gegenwart.

 
Die Zweifel am „Idealbild“ Mensch“

Ebenso alt wie die Idealisierung des intakten harmonischen Körpers ist vielleicht der Zweifel daran, die Erfahrung des Todes nämlich, der Krankheiten, der Hinfälligkeit seiner Haut, seiner Kräfte, seiner Schönheit ... Nicht nur im christlichen Heiligenkult, sondern auch bei den Totenbildern der Mächtigen und der Ahnen schlug das Staunen und Bewundern bald auch ins Entsetzliche um, in die Erfahrung der Vergänglichkeit und des Unheimlichen. Sogenannte Effigienbilder haben – quasi als Ersatz des Leichnams – die Hinfälligkeit des Körpers immer naturalistischer wiedergegeben. Aber auch die hochstilisierten und symbolträchtigen Arbeiten der englischen und der deutschen Romantik stellten den Tod als Teil des Lebens dar und trugen dazu bei, das Verborgene als das Unheimliche, Fragmentarische am Körper, besonders am Körper der Frau, zu entdecken. Im Barock (etwa seit 1738) wird es zum Gesellschaftsspiel an den fürstlichen Höfen, später dann auch in der bürgerlichen Gesellschaft, Interesse zu entwickeln für „die Konstruktion“ des Geheimnisvollen. Automate wurden entwickelt und teuer bezahlt, frühe Roboter, die dazu beitrugen, das Schöne wie das Kranke und Tödliche als manipulierbar zu verstehen. Der Flötenspieler von Vaucanson (1738) zum Beispiel konnte zwölf Stücke spielen und dabei Finger, Lippen und Augen bewegen... Descartes hatte gelehrt, den menschlichen Körper als manipulierbares „Ding“ zu betrachten (1737), La Mettrie, der Hofatheist Friedrichs II. in Potsdam, schrieb seinen berühmten Traktat „L’ homme machine“ 1748. Die Gliederpuppen in den Künstlerateliers der frühen Moderne, das futuristische Manifest von Marinetti (1912), Oskar Schlemmers Triadisches Ballett (1922), die Torsoarbeiten von Hans Bellmer (ab 1933) und etwa die Mannequin-Ausstellung der Surrealisten 1938 in Paris waren Meilensteine im Denken über den Körper als manipulierbare Maschine. Selbstverständlich färbte das die Entwurfsvorstellungen zur Architektur. Die Bauhauslehre unter Hannes Meyer (1889 – 1954), die der russischen Revolutionsarchitekten, etwa Konstantin Melnikovs (1890 – 1974) ja sogar der Nachkriegsfunktionalismus in Deutschland (Architektur als Verkaufsgut) haben diese Auffassung vom Körper als Maschine stimuliert.

 
Der Blick in die Gegenwart

Die Anpassungen der industriellen Moderne von Hygiene, Sport, Pflege und auch den mechanischen Möglichkeiten der Korrektur haben in der Öffentlichkeit ein Bild des menschlichen Körpers als Artefakt erzeugt, das unerbittlich, ja erpresserisch inszeniert und dargestellt wird. Eine gewaltige Werbeindustrie postuliert „Soll-Eigenschaften“ von idealen Männern und Frauen, die mit Hilfe von Normen, Dogmen, Empfehlungen, Angeboten und Verboten, jedenfalls unter enormem Werbedruck vorgetragen und mit Hilfe von Presse, Filmwelt und Fitness-Industrie aufdringlich durchgesetzt werden. Die jeweiligen Schönheitsideale spielen gewichtige Rollen bei den Umsätzen der Kauf-Verkaufwelt. Dieser hochartifizielle Schönheitskult ist erstaunlich weit von den „Naturzuständen“ der alternden Menschen entfernt, er verherrlicht Jugendlichkeit und verschiebt sich interessanterweise mit der Zeit (international) zugunsten rasseübegreifender, oft auch androgyner Typen. Selbstverständlich wirken die Fitnesskapagnen höchst unsozial, indem sie Dicke, Alte, Kranke und a-Normale ins Abseits transportieren. Durch die Konstruktion von Körperidealen wird in der Wirtschaft Kaufzwang entwickelt, der Kaufzwang wiederum bringt Arbeit, wobei die Konsumenten meinen, der Staat sei dem einzelnen einen Arbeitsplatz schuldig, den er braucht, um seine Investitionen (zu einem erheblichen Teil für einen „neuen“ Körper) abzuarbeiten. Physisches Dauertraining, Modekult, Sport- und Arbeitswelt, Körperfotografie und täglich tausendfache Vorführung der Körperidole durch die Medien sowie Techniken biologischer Reproduktion, Piercing, Schönheitschirurgie, Implantationen, spezielle Ernährung usw. formen und kontrollieren die manipulierten Körper. Es ist selbstverständlich, dass die mit solcher Wucht vorgetragene „Körpergestaltung“ mehr und mehr Einfluß hat auf die Gestaltung des architektonischen Raumes.

 
Der Leib als letzter Anker ...

Ich unterscheide „Körper“ von „Leib“. Körper ist das physische Ding, das aus Gliedern, Elementen und zusammengesetzten Teilen besteht, das ich betrachten und wie ein Gerät behandeln, reinigen und verändern kann, meinen Körper wie auch andere Körper, - wenngleich ich meinen eigenen nicht wie andere Körper von allen Seiten betrachten kann. Mein Leib ist der gespürte, handelnde Leib, ich verstehe ihn als die Inkarnation meines Selbst. Mein Leib handelt, erinnert sich, er ist lustgetrieben und auf Handeln aus, er stellt mich selbst in Aktion dar. Das Gefühl für das leibliche Ich kann und muß philosophisch als der tiefste Urgrund des Weltverständnisses und des Weltvertrauens aufgefasst werden. Durch den Leib – und NUR durch den Leib – wird mein Verhältnis zu anderen Menschen und zur Dingwelt – auch das zum Architekturraum – bestimmt. Es gibt die unerschütterliche Intimsphäre meines eigenen Leibes, sie ist der zuverlässigste Ort der Welt. Auf dem Urvertrauen zu meinem Leib („hier bin ich“) beruht die Strategie aller meiner Aktionen, ohne dieses Vertrauen ist das Leben im Raum, auch das in der menschlichen Gesellschaft, unmöglich. Dieses Leib-Vertrauen ist nicht abhängig (jedenfalls nicht grundsätzlich, existentiell) abhängig vom Zustand meines veränderbaren Körpers, seinem Alter, seiner Haut, seinem dinglichen Zustand. Aber es bestimmt die elementare Gestik: mein Vermögen, aufrecht zu stehen, auf Dinge zuzugehen, mit Enge- und Weiteempfindungen den Raum zu erobern und insgesamt die Architektur als ausdrucksvoll zu erleben.

Gegen die willkürliche Manipulation der Körper als Objekte versuchen neue Strömungen der Körperpädagogik und Körpertherapeutik vehement anzugehen. Aus einem ganzheitlichen Naturverständnis (das Ich und die Welt als kosmischer Zusammenhang) heraus versuchen zum Beispiel Hugo Kükelhaus, Rudolf zur Lippe, Buytendijk, Karlfried Dürkheim, die Waldorfpädagogik u.a. die blinde Propagandistik für einen idealen „Arbeitskörper“, „Sportkörper“ etc. zu verhindern und für ein Leibverständnis zu werben, das Welt und Selbst als einen rhythmischen Gesamtzusammenhang begreift. Die philosophischen Urahnen eines solchen Denkens sind sicherlich Friedrich Nietzsche (1844 – 1900) und die großen Anthropologen des 19. Jahrhunderts: Max Scheler (Die Stellung des Menschen im Kosmos, 1928), Helmut Plessner (Die Stufen des Organischen und der Mensch, 1928) und Merleau-Ponty (Phaenomenologie der Wahrnehmung, 1945). Eine bedeutende Formulierung für die konstitutive Rolle des Leibes bei allen Erkenntnisvorgängen hat die neue Phaenomenologie, zum Beispiel die von Hermann Schmitz (Der erlebte und der gedachte Raum, 1966/2001) gefunden. In diesem Licht ist auch in neuester Zeit das Verständnis von kunstgeschichtlichen Phaenomenen zu sehen, das nicht mehr die Schönheit harmonischer Objekte analysiert, sondern die Bedeutung der Objekte in Wahrnehmungs- und Erlebniszusammenhängen mit den konkreten Leibsituationen der Subjekte. (Siehe zum Beispiel die Arbeiten von Roland Günter.) In der Architektur treten inzwischen auch Realisierungen hervor, die Architekturqualitäten an Erlebnisqualitäten festmachen, an Atmosphärischem, an konkreten Tastraum, Hörraum-, Sehrraumqualitäten wie am Zauber der choreografischen Abläufe. (Siehe zum Beispiel die Arbeiten von Peter Zumthor).

Meine 2004 vorgelegte Skizze zu einer neuen, leiborientierten Architekturtheorie „DAS DENKEN DES LEIBES UND DER ARCHITEKTONISCHE RAUM“ mag auch vor diesem Hintergrund verstanden werden.

Wolfgang Meisenheimer