Wolfgang Meisenheimer

Akademiereihe heft 5

ARCHITEKTUR - MIT ANDEREN AUGEN GESEHEN

Architektur aus dem Blickwinkel der Künste, Wissenschaften und Medien. 2003.

Wochenendseminar zu ausgewählten Fragen der Architekturtheorie (Leitung Prof.Dr.-Ing. Wolfgang Meisenheimer) im Fachbereich Architektur der Fachhochschule Düsseldorf, zugleich Akademie des Deutschen Werkbundes, Schloß Gnadenthal b. Kleve. Mai 2003.

Inhalt:    

Wolfgang MeisenheimerEinführung in den Themenkreis
Peter FoosDenkgebäude, Architektur als philosophische Allegorie.
Roland GünterTexte zum gebauten Raum. Kritik, Dokumentation, Poesie.
Wilfrid JochimsArchitektur und Musik.
Mark Mückenheim / Omar Mansour Der architektonische Raum als digitale Simulation.
Waser Marjanov Mit Material gemacht: „headhouses“.
André KargerArchitektur im Traum /in Träumen.
Rudolf Heinz PhobienDer architektonische Raum in Krankheits-bildern.
Lutz AengeveltDie Architektur und das Geld: - Stadtplanung und Architektur und die ökonomischen Sachzwänge

Referenten:

Prof.Dr.-Ing.Wolfgang Meisenheimer, FH Düsseldorf, Architekt, Dr. Peter Foos, Philosoph, Künstler, Uni Köln und Kunstakademie Düsseldorf, Prof.Dr. Roland Günter, Kunsthistoriker, Uni Bielefeld, Vorsitzender des Deutschen Werkbundes NW, Prof. Wilfrid Jochims, Sänger, Hochschule für Musik und Schauspiel Rostock, Mark Mückenheim /Omar Mansour, Architekten, Medienwissenschaftler, Düsseldorf, Waser Marjanov, Bildhauer, Düsseldorf, Dr.med. André Karger, Arzt, Psychotherapeut, Uni Düsseldorf, Prof. Dr.phil Rudolf Heinz, Philosoph, Psychotherapeut, Uni Düsseldorf, Dr. Lutz Aengevelt, Kaufmann, Wirtschaftswissenschaftler, Leiter einer Immobilien KG, Düsseldorf.

Einführung in den Themenkreis

Das Rahmenthema – Architektur mit den Augen von Nicht-Architekten, von Wissenschaftlern, Künstlern, Träumern, Passanten gesehen – ist, zugegeben, herausfordernd formuliert. Zunächst ist zu fragen, wie sehen denn Fachleute, Spezialisten, Insider die Architektur, was ist Architektur, mit ihren Augen gesehen?

Fachleute sehen heute – wie auch früher, in den Frühzeiten der Architekturgeschichte – analytisch, begrifflich, abstrahierend, sie sind an Definitionen, am Nachweis von Bestandteilen und Regeln interessiert. Daher waren ihre Methoden immer reduktionistisch, d.h. sie führten die Komplexität des Gegenstandes auf bestimmte Elemente zurück und auf die Systeme ihrer Zusammensetzung. Ihre Definitionen müssen und mussten wiederholbar sein, d.h. einfach und gerade dadurch in zukünftigen Handlungszusammenhängen brauchbar. Und ihre Thesen mussten möglichst wenige Spuren eines individuellen Beobachters tragen.

Welches sind nun die in Europa vorwiegend herausgearbeiteten Grundbegriffe des „fachlichen Blicks“? Und von welcher Art ist ihre Idealisierung? Seit Vitruv (Zehn Bücher über die Architektur, 33 – 14 v. Chr.), aber insbesondere seit der Renaissance werden mit wechselnder Betonung drei Grundbegriffe (Strukturen) herausgeschält: 1. die Brauchbarkeit, der Zweck, 2. die Stabilität, die Technik und 3. die sinnliche Erlebbarkeit, die Schönheit. Diese Strukturen können (nach der Ansicht der Fachleute) bei der Architektur isoliert betrachtet und beschrieben werden, ihre Überlagerung charakterisiert alle wirklichen und möglichen Bauwerke.

Von welcher Art aber ist der nicht-fachliche, der ANDERE Blick? Und wenn es eine ganze Reihe von verschiedenen Möglichkeiten gäbe, Architektur „mit anderen Augen“ zu sehen, welchen Grund gibt es für Architekturstudenten, Entwerfer und Theoretiker, sich solchen Betrachtungsweisen zu öffnen?

Erlauben Sie zunächst eine einfache Benennung von Interessen, Architektur mit anderen Augen zu sehen.

  1. Das persönliche Erlebnis.

    Gemeint ist jemand, der Architektur benutzt, indem er sie selbst körperlich erlebt:

    1. jemand, der sich unter einem Dach schützt und wohlfühlt,
    2. jemand, der in einem Hotelzimmer schläft und die Fremde empfindet,
    3. jemand, der in einem Bürohaus arbeitet und dort sein Geld verdient,
    4. jemand, der im Fußballstadion die begeisterten Massen spürt,
    5. jemand, der beim Orgelkonzert in einer Kirche in sein Inneres eintaucht,
    6. jemand, der eine Treppe hinaufsteigt mit einer gewissen Erwartung,
      usw. usw.

      In jedem Falle ist bei der Raumerfahrung mit gebauten Dingen persönliches Schicksal verbunden, d.i. ein Handlungszusammenhang, der das Selbst zeigt in besonderen Stimmungen: „Atmosphäre“

  2. Der aesthetische Genuß.

    Jemand, der architektonischen Raum sinnlich wahrnimmt, der seine Schönheit genießt oder ihn als abstoßend erleidet:

    1. der Flaneur, der die Gassen von Venedig durchstreift,
    2. der Betrachter der Fassade von Il Redentore von Palladio in der Morgensonne,
    3. der Genießer in den Straßen und Plätzen von Rom, die er als gestaltete Hohlräume erlebt,
    4. jemand, der die Mosaiken auf dem Fußboden von S. Marco spürt,
    5. jemand, der die Silhouette von Istanbul mit den Märchen von Tausendundeine Nacht verbindet,
    6. jemand, der die Wände einer Gefängniszelle als leer, abstoßend, grausam empfindet,
      usw. usw.

      Immer wird die sinnliche Wirkung der Architektur dem Leib mitgeteilt. Die Wahrnehmung ist eine totale: Geist, Körper, Erinnerung und Erwartungen sind im Erlebnis-Spiel. Die Architekturqualität ist unlösbar mit Wertgefühlen eines Subjekts verquickt.
         

  3. Das Bild der Architektur.

    Jemand, der Architektur als Bildmotiv benutzt, der das Bild der Architektur für seine Zwecke erzeugt:

    1. der Filmer (z.B. Wim Wenders), der seine Geschichte in den Straßen von Berlin spielen lässt,
    2. der Bildhauer (z.B. Waser Marjanov), dessen Objekte mit der Erinnerung an Architektur spielen,
    3. das Kind, das aus Klötzchen eine Stadt baut,
    4. der Bühnenbildner (z.B. Heinrich Wendel), der einen Palast für seine Oper macht
    5. der Poet (z.B. Walter Benjamin), der die Passagen von Paris in seinen Texten auftauchen lässt,
    6. der Maler (z.B. Canaletto), der Venedig am Geburtstag des Dogen malt.,
    7. der wissenschaftliche Beobachter (z.B. Roland Günter), der eine Methode zur Stadtbeobachtung (Murano) entwickelt,
    8. der Philosoph (z.B. Peter Foos), der an architektonischen Strukturen als Allegorien (“Gedankengebäude“) interessiert ist,
      usw. usw.

      Bei allen diesen Produktionen benutzen die Macher Architektur als Motiv. Sie erzeugen Bühnen nach dem Bild der Architektur.
         

  4. Architektur als (bloße) Vorstellung.

    Jemand, in dessen subjektiver Vorstellung der architektonische Raum eine Rolle spielt:

    1. ein Träumer, dem ein Schloss, eine enge Kammer, ein weiter Platz erscheint,
    2. ein Kranker, dessen Wahnvorstellungen deutlich architektonische Züge haben (Schluchten, Kerker, Türme etc.)

      Hier ist die Architektur nicht dinghaft und nicht eigentlich beschreibbar, dennoch wiederholen sich offenbar typische Raumstrukturen.

  5. Geldwert und Tauschwert von Architektur.

    Jemand, der am objektiven, wirtschaftlichen Wert vom Bauwerk als Immobilie interessiert ist:

    1. Käufer und Verkäufer,
    2. Mieter und Vermieter,
    3. Notare, Erbschleicher
      etc. etc.

      Die rationalen Vorgaben (objektive Werte) sind bei ihren Aktivitäten mit irrationalen (Vorlieben, Erwartungen etc.) verknüpft: Architektur wird hier als (soziales und oekonomisches) Machtmittel benutzt.


  6. Der architektonische Raum als wissenschaftliches Thema.

    Jemand, der Architektur unter bestimmten rationalen Aspekten untersucht:

    1. der Kunsthistoriker, der Entstehen und Vergehen von Bauten und Baustilen als zeitlichen Ablauf darstellt,
    2. der Kritiker /Journalist, der auf Zusammenhänge von gebautem Raum und sozialen Phaenomenen aufmerksam macht,
    3. der Architekturtheoretiker, der das konventionelle fachliche Denken infrage stellt,
    4. der Entwurfslehrer, der Methoden entwickelt, Entwürfe und Bauten systematisch zu erzeugen,
      usw. usw.

      Das sind Fachleute – neben den Architekten und Ingenieuren - die sich für bestimmte Eigenschaften gebauter Objekte, ihre Erzeugung, Rezeption, Bewertung usw. interessieren (und dafür bezahlt werden).

Zu diesen Möglichkeiten, Architektur „mit anderen Augen“ zu sehen, werden in diesem Seminar bedeutende Beispiele vorgetragen. Warum ist die Befragung der „Außenseiter“ für Studenten und Entwerfer, für jeden von uns wichtig?
Weil die Beschränkung auf den „fachlichen Blick“ – wie jeder Erfahrene weiß – trotz und wegen seiner rationalen Zuverlässigkeit stumpfsinnig macht! Der Spezialist wird allzu schnell unsinnlich, traumlos und trocken. Er beginnt, schmalspurig zu arbeiten, er verödet, verhärtet, trocknet aus, er verliert die notwendige Neugier, er arbeitet ohne Phantasie-Überschuß ...
Die Begegnung mit (hochgeschätzten) Außenseitern unseres Faches wird uns anregen, auf das Verborgene zuzugehen, auf das Geheimnisvolle, Träumerische, Zufällige, Rissige, Seltsame im Gegenstand unserer Arbeit, dem Raum der Architektur. Auf das Persönliche (hinter dem „Objektiven“), auf das Gefühl (zwischen den „Dingen“).

Deshalb fordern wir (im Seminar mit Narrenkappe vorgetragen):

  •     musikalische Architektur,
  •     malerische Architektur,
  •     poetische Architektur,
  •     tänzerische Architektur,
  •     träumerische Architektur,
  •     skulpturale Architektur,
  •     kindliche Architektur,
  •     wetterfühlige Architektur
  •     erotische Architektur,
  •     verzauberte Architektur
  •     wachsende Architektur,
  •     Architektur zum Verlieben,
  •     Weibliche Architektur...