Wolfgang Meisenheimer

Akademiereihe heft 12

"ARCHITEKTUR UND IDEOLOGIE
Sind Ideologien hilfreich oder verhängnisvoll?"

Akademie des Deutschen Werkbundes NW 2010
(Schloss Gnadenthal)

Einführung in den Themenkreis

  1. Zur Definition: was ist Ideologie, ideologisch?
    idea (gr.) heißt etymologisch Vorstellung, Erscheinung, Idee,
    logos (gr.) heißt Lehre, System, Wissen,
    Ideologie heißt demnach Lehre von den Ideen, Vorstellungen.
    Die Definition hat im Laufe der Kulturgeschichte Europas zwei verschiedenartige Akzente bekommen, einen positiven (wir brauchen Ideologien im Sinne von Wertsystemen, Weltanschauungen, um im Alltag, in der Kunst, Wissenschaft, Politik usw. unsere Aktivitäten und Einfälle zu ordnen) und einen negativen(wir müssen uns schützen vor Ideologien im Sinne von geistigen Machtmitteln,autoritativen Behauptungen, denn sie sind die häufigsten Ursachen von sozialem Leid, Krieg und Unterdrückung).

  2. Skizze einer Kulturgeschichte der Ideologien.
    Francis Bacon (1561-1626), der Begründer des englischen Empirismus versuchte mit seiner "Idolen-Lehre" die Reinigung des Denkens von Trugbildern, Meinungen und Magie, wie sie seit dem Mittelalter üblich waren. Nur saubere, wissenschaftliche Erkenntnis, rationaler Umgang mit definierten Begriffen, verbunden mit eigener sinnlicher Erfahrung, rechtfertige die technische Herrschaft des Menschen über die Natur.
    Detrutt de Tracy (1754-1836), ein französischer Philosoph der Aufklärung prägt ein seinem Hauptwerk "Elements d´Ideology" 1803 erstmalig den Begriff Ideologie. Er folgte Francis Bacon in der Forderung von Ideen und Systemen zur Ordnung sinnlicher Erfahrung (gegen den Rationalismus von Descartes).
    Napoleon Buonaparte (1769-1821) betrachtete den schwärmerischen Freiheits- drang der "Ideenforscher" allerdings skeptisch und gab dem Begriff Ideologie einen negativen Akzent, den er bis heute trägt: der Obskurantismus der Ideenforscher sei unrealistisch und möglicherweise gefährlich.
    Karl Marx (1818-1883) und Friedrich Engels (1820-1895) griffen am Beginn der Neuzeit die Argumente der Aufklärung (de Tracy) auf, aber sie machten deutlich, dass die Ideenfindungen auf dem Hintergrund konkreter Lebensbedingungen entstehen. Sie betonten besonders den Rang der oekonomischen Bedingungen der Sozialgeschichte. Man müsse sie zur Kenntnis nehmen und jeweils empirisch untersuchen.
    Ernst Bloch (1885-1977) bezeichnet in diesem Sinne Ideen als Bilder von der Wirklichkeit, die objektive wie auch subjektive Fakten enthalten, also nie "objektiv" sind. Ideen seien grundsätzlich manipulierbar, ja sie konstituierten die sozialen Subjekte.
    Theodor Adorno (1903-1969) aus der Frankfurter Philosophen- und Soziologen- Schule beschrieb -besonders in seinem Werk "Dialektik der Aufklärung" (1945) - differenziert, wie die Entstehung von ideologischen Systemen und ihre Einbindung in individuelle Denkmuster im praktischen Leben vor sich geht. Ideologien verschiedenster Art seien in der Vorstellung von Individuen miteinander verwoben.
    Karl Popper ( 1902-1994) entwickelte Denkschemata für Ideologie-Kritik. Besonders in seinem Werk "Die offene Gesellschaft und ihre Feinde" zeigte er konkret die Suggestiv-Definitionen, Feindbilder und dogmatischen Behauptungen auf , die die gefährlichsten Ideologien der jüngsten Vergangenheit (Nationalsozialismus und Stalinismus) entwickelt haben.

  3. Die wichtisten Ideologien der Gegenwart (Europa und Amerika).

    1. Drei politische Ideologie-Stränge treten, sich gegenseitig verdrängend undüberlagernd, in unserer Zeit auf:

      1. Liberalismus, die Betonung der Freiheit ("Ich"),
      2. Sozialismus, die Betonung der Gleichheit ("Wir"),
      3. Konservativismus, die Betonung der geschichtlichen Werte "Konfessionen, Kulturen"):
        Alle diese Ideologien sind in Alltagssituationen, für die gesellschaftliche Entwicklung usw. hilfreich, ja notwendig; doch ihre Übertreibung ins Extreme kann gefährlich und bedrohlich werden.

    2. Religiöse Ideologien entwickeln sich in der Gegenwart in bedrohliche fundamentalistische Formen hinein: Christentum, Islam, Buddhismus, Konfuzianismus, Hinduismus. Ihre extremistischen Formen lassen keine Abweichungen zu; sie sind die Quellen des Terrorismus in unserer Zeit.
    3. Einige pragmatische Ideologien werden gleichzeitig betont und überbetont, sofern sie Gegenpositionen unterdrücken: die oekonomische Gier(Hyperkapitalismus), die Technik-Euphorie (hightech als einzige "reelle" kulturelle Entwicklung und neue Oekologie (die Erzeugung eines neuen "Natur-Begriffs" als höchste Aufgabe der modernen Zivilisation.)

      Für Europa und Amerika ist festzuhalten: jeder einzelne Mensch nimmt für sich in Anspruch, nach persönlicher Wahl, also in scheinbarer individueller Freiheit, sich eine "Melange" an Ideologien zusammenzustellen und zu verteidigen. Die Vernetzung seiner widersprüchlichen Motive solle durch den Staat geschützt werden. Zugleich buhlen Parteien, Kirchen, Institutionen, Firmen, Verkäufer etc. um seine Gunst. Ganz offenbar ist die Entwicklung einer neuen Kultur der Nachbarschaftlichkeit , Duldsamkeit und Rücksicht vonnöten. Die Verantwortung für Andersdenkende muß sich gegen einseitige Ideologien, radiaklen Individualismus und Egoismus durchsetzen!

  4. Die Architektur zwischen ideologischen Polen.
    Die Architektur als eine bedeutende Formensprache, also Architektur seit den ersten Stadtgründungen, Persepolis, Babylon etc., um 2500 v.Chr., zeigt, dass die Mächtigsten der Gesellschaft, Fürsten, Kirchen, Institutionen, Reiche, sie ständig zur Selbstdarstellung benutzt haben. Sie funktionierte als eine zeichenhafte Bühne zur Demonstration von Eigenarten und Ansprüchen bestimmter gesellschaftlicher Gruppen gegenüber anderen. Der Traditionierung, Ausbreitung und Durchsetzung ihrer besonderen Formen dienten Vorzeige- Bauten, Bauschulen und - mit fortschreitender Entwicklung der Darstellungsmedien- Lehrbücher, typologische Zeichnungen, Modelle und Kataloge. Durch die globale Entfaltung der Kommunikationsmittel ist in der Gegenwart eine grenzenlose Euphorie der Möglichkeiten erreicht,die weltweite Verfügbarkeit aller Formen, die, verbunden mit der raschen Entwicklung technischer Möglichkeiten einerseits ein überschwengliches Hochgefühl der Entwerfer, andererseits Hilflosigkeit und Ohnmacht zur Folge hat. ("Überall ist alles möglich." "Ist überall alles erlaubt?") Mit der Möglichkeiten-Explosion ist ein global ausgedehnter Werbe-Druck entstanden; insbesondere versuchen internationale Konzerne und Kapitalgruppen, ihren Einfluß, ihre Produkte mit ungeheurem Druck in den den Stadtbildern der Welt vorzutragen und Monopole auf bestimmte Formensprachen zu bekommen. Ideologie-Kritik ist, falls überhaupt vorhanden, ohnmächtig.

    Für die entwerferische Arbeit der Architekten und Designer sind vier ideologische Komplexe deutlich geworden, die Arbeitsmaximen für den Alltag zulassen und fordern:

    1. Die Oekonomie (das Geld) als politische und soziale Großmacht sollte nicht das gebaute Bild unserer Umwelt bestimmen. Statt dessen ist es das komplexe Bild der Lebensformen der Menschen, das die Sprache der Architektur darstellen sollte.
    2. Die Weiterentwicklung der technischen Welt zählt zu den großartigen Zügen der Moderne. Aber ihre Selbstdarstellung darf nicht mit der Entwicklung der Kultur verwechselt werden. Für das Bauen gilt: "wo ist welche Technik angemessen, d.h. in welche sozialen und landschaftlichen Situationen?
    3. Die Frage nach einem neuen Natur-Begriff ist heute vielleicht die dringlichste Aufgabe der menschlichen Zivilisation. Aber die oekologischen Fragen können global und regional nur einen Teil unserer Aufgaben darstellen.
    4. Die Leibwelt des Menschen ist gegenüber der elektronischen, digitalisierten Welt zu schützen. Ihr elementarer Rang (als Feld der primären Erkenntnis, als Kulturlanschaft der Sinne, der Emotionen, der persönlichen Erfahrung) ist ins Bewußtsein zu heben: mein Zimmer, meine Stadt, meine Heimat usw. Sie ist als Ort der menschlichen Bildung durch elektonische Kommunikation nicht zu ersetzen.

Zum Schluß mögen einige Arbeitsmaximen eines neuen Werkbundes herausgestellt werden, deren Akzente gegenüber dem Werkbund der Gründungsphase (1907) verschoben sind.

Das Bauhaus-Vokabular ist nicht die einzig mögliche ästhetische Sprache, obgleich es seinen Wert nicht verloren hat. Es kann weiterentwickelt werden. Und Widersprüche sind erlaubt.. Aber bitte: ästhetischer Liberalismus ("alles ist erlaubt") sollte nicht geduldet werden. Eine globale Gleichheit der Formen ist nicht auf allen arbeitsfeldern anzustreben. Natur- und Kulturlandschaften sollten die Architektur regional prägen. Die Oekonomie als Hypermacht: bitte nein! Geld darf nicht das Stadtbild bestimmen. Die Selbstdarstellung der Technik (Hightech) ist nur bei "Bauaufgaben ohne Ort" (Fahrzeuge, Weltraum, internationaler Verkehr) sinnvoll. Normal ist: Architektur charakterisiert einen Ort, ein Ort charakterisiert die Architektur. Keinen reinen Konvervatismus mehr betreiben, d.h. keine Denkmalpflege ohne konkretes Interesse an der Gegenwart. Die Geschichte ist als Teil des Heute jeweils neu zu "erfinden".

Was nun? Die junge Generation/ der junge Werkbund hat das Wort!

 
    
Referenten-Verzeichnis

Prof. Knud J. Ehm, Architekt, Seoul, Hanyang-Universität)
kjehm@mac.com

Prof. Dr. Wolfgang Meisenheimer, Architekt Architekturtheoretiker, Düren
wolfgang.meisenheimer@t-online.de

Julian Meißner, stud.arch. Alanus-Hochschule Alfter b. Bonn
architektur@alanus.edu

Dr. Walfried Pohl, Kunsthistoriker, Bonn
walfried.pohl@t-online.de

Prof. Dr. Roland Günter, Kunsthistoriker, Schriftsteller, 1. Vors. DWB NW, Oberhausen rolandguenter@t-online.de

Prof. Gregor M. Rutrecht, Architekt, Designer, FH Kaiserslautern, Aachen
gregor@rutrecht.de

Prof. Dr. Marcello da Veiga, Kulturphilosoph, Gründungsdirektor Alanus Hochschule für Kunst und Gesellschaft, Alter b. Bonn).
andrea.mccann@alanus.edu



 
Inhalt

Wolfgang Meisenheimer/ Einführung in den Themenkreis

Gregor M. Rutrecht/ Ideologien in der Lehre

Knud J. Ehm/ Raumbegriffe und Modelldenken im Kontext ostasiatischer Traditionen

Julian Meissner/ Was ist zumutbare Architektur?

Walfried Pohl/ Am Anfang der Moderne: die Ideologie der Maschinenästhetik

Roland Günter/ Architektur als angewandte Psychologie

Marcello da Veiga/ Ideologien als Denkfiguren. Erkennen und künstlerisches Schaffen. Ein bewußtseinsphänomenologischer Zugang zu Rudolf Steiners Ästhetik