Wolfgang Meisenheimer

Akademiereihe heft 4

Die Architektur und das Organische. 2002.

Dokumentation eines Seminars zu Fragen der Architekturtheorie veranstaltet im Lehrgebiet Grundlagen des Entwerfens (Prof. Dr.-Ing. Wolfgang Meisenheimer) durch den Fachbereich Architektur der Fachhochschule Düsseldorf im SS 2002, zugleich Sommerakademie 2002 des Deutschen Werkbundes NW, Schloß Gnadenthal bei Kleve.

Inhalt:  

Wolfgang MeisenheimerEinführung in den Themenkreis
Uwe A.O. HeinleinDas Organische in Biologie und Chemie.
Rudolf HeinzTodesbeschwörung zum Problem des Organischen, philosophisch und psychopathologisch.
Günther FeuersteinBiomorphe Architektur.
Nikolaus v. KaisenbergDie organische Architektur Rudolf Steiners. Bauimpulse der Anthroposophie.
Axel SimonHermann Finsterlin und andere Organiker. Aus dem Panoptikum der Architekturgeschichte.
Niels JonkhansOrganische Motive für die Computerarbeit. Neues aus dem Atelier Peter Cook.
Hans Günter Hofmann Fünfhundert Jahre Erfahrung beim Akt-Zeichnen.
Ursula RinglebenOrganische Gestaltung in der Architektur. Verständnis, Missverständnis, Platituden etc.

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Referenten- Verzeichnis:

Prof. Dr. Uwe A.O. Heinlein, Biologe, Institut für Genetik, Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf, Prof. Dr. Rudolf Heinz, Philosoph, Psychotherapeut, Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf, Prof. Dr. Günther Feuerstein, Architekt, Architekturtheoretiker, Publizist, Wien, Nikolaus v. Kaisenberg, Architekt, Aachen, Alanus-Hochschule Alfter b. Bonn, Dipl.-Ing. Axel Simon, Architekt, Publizist, T.U. Zürich, Dipl.-Arch. m.arch. Niels Jonkhans, Architekt im Büro P. Cook, London, Graz, Prof. Dipl.-Ing. Hans Günter Hofmann, Architekt und Maler, FH Düsseldorf, Prof. Dipl.-Ing. Ursula Ringleben, Architektin, Düsseldorf, GHS Wuppertal.

Einführung in den Themenkreis

Der Begriff des ORGANISCHEN hat nicht nur heute, sondern auch historisch zwei verschiedene definitorische Wurzeln. Einmal ist die strukturale Eigenart der gewachsenen Natur gemeint, ein andermal das Postulat der gewünschten, nämlich ganzheitlichen Eigenart menschlicher Werke, also ein Ideal für die Ausarbeitung künstlerischer und wissenschaftlicher Kompositionen. Die Verklammerung des dabei Gemeinten (das Geschaffene solle so sehr geordnet und in sich geschlossen sein wie die Natur) ist wohl ein Erbe der griechischen Antike. Die Geschichte der Verknüpfung dieser Begriffe soll wegen der besonderen Bedeutung ihrer Verwandlungen bis zur Schwelle unserer Gegenwart skizziert werden.

Antike und Mittelalter
Vitruvius Pollio (De architettura libri decem, 33-14 v.Chr.) verbindet sogleich die Entstehung der Architektur mit Aspekten der Natur, indem er die Sicherung vor den Naturgewalten als die erste Aufgabe der Architektur beschreibt und die ersten architektonischen Formen für Nachahmungen der Natur hält (Laubhütten, Nester, Höhlen).
Alberti (1404.-72, De re aedificatoria) betont in seiner aesthetischen Architekturtheorie den kompositorischen Zusammenschluß der Teile zum Ganzen (concinnitas) mit Hilfe schöner Proportionen analog zu den Gesetzen der Natur.
Filarete (1461,Sforzinda) beschreibt in seinem architekturtheoretischen Roman das Bild einer Urhütte, die naturhaft aussah und ausdrücklich menschliche Proportionen hatte, nämlich fünf aufeinander bezogene elementare Körpermaße.
Andrea Palladio und sein Gönner Daniele Barbaro (1578, Venedig) gingen davon aus, die Natur gestalte sich selbst vernünftig. Ein vorgegebenes rationales Prinzip, festgelegt durch Zahlenordnungen, sei auf menschliche Arbeit (Architektur z.B.) zu übertragen.

Vorspiele der Moderne
Abbé Marc Antoine Laugier (1713-69) forderte die Architekten auf, das göttliche Zahlenwerk nicht nur aesthetisch, sondern auch konstruktiv-statisch einzusetzen.
Jean-Jacques Rousseau (1761, La Nouvelle Heloise) beschrieb den Park, also künstliche Natur, als Seelenlandschaft mit belehrenden moralischen und sozialen Effekten.
Etienne-Louis Boulleé (1793) zeichnete seine Revolutionsarchitektur als bildhaftes Theater der rationalen Naturordnung. So versteht er zum Beispiel den Epitaph für Newton und den Tempel der Vernunft als Ideenbilder, eingebettet in gefühlige sinnliche Szenen.
Horace Wolpole (1797, On Modern Gardening) hat die Wirkung asymmetrischer Proportionen auf das Schönheitsgefühl gleichermaßen in Gartenkunst und Landschaftsmalerei gerühmt und "gotisch" genannt.
Hermann Pückler-Muskau (1834), von englischer Landschaftskunst lernend, sprach, Goethe nahestehend, vom Garten als Bildergallerie, von der ‚Natur im Kleinen' als poetischem Ideal.

Frühe Moderne
Gottfried Semper (1803-79) lehrte, die Architektur erwachse ursprünglich aus dem Bedürfnis, die Baukunst gleiche daher der Natur, insbesondere ihre vier Grundelemente Herd (Ton), Dach (Holz), Umfriedung (Textil) und Fundament (Stein).
August Thiersch bezeichnete Architektur als ‚kalkulierte Natur'.
Johannes L.M. Lauweriks (1864-1932), um 1906 auf Peter Behrens'Stelle bei der Kunstgewerbeschule Düsseldorf (später FHD) lehrend, versuchte in seiner Entwurfslehre die dynamische Metamorphose der Natur auf die Architektur zu übertragen. Seine proportionalen Liniennetze hatten wohl Einfluß auf Le Corbusiers berühmten Modulor.
Rudolf Steiner (Goetheanum I, 1914-22) fasste fließende Linien als figurative Symbole für die Naturkräfte auf. Der Symbolbegriff erlaubt es, Natur und Geist als ganzheitliches System zu verbinden.

Klassische Moderne
Frank Loyd Wright (1867-1959) verstand seine "organische Architektur" als pathetische soziale Formensprache, die sich - wie die wachsende Natur - von innen nach außen entwickelt. "Architektur wächst wie die Natur".
Richard Neutra (1892-1970) wollte in einem bio-realistischen Ansatz die physischen und psychischen Wirkungen der Natur auf den menschlichen Leib zum Ausgangspunkt alles Design machen.
Antonio Gaudi (1852-1926) hielt die lebendige Lineatur der Pflanzen für eine religiöse Demension, die sogar Einfluß haben könne auf die öffentliche Moral.
Hugo Häring (1882-1958). Seine Theorie der organischen Architektur behauptete eine genetische Entwicklung vom Geometrisch-Statischen (Ägypten) zum Organhaft-Dynamischen (Barock, Moderne). Daraus entstand bald eine Opposition gegen rationalistische moderne Richtungen (z.B. Mies van der Rohe).
Hans Scharoun (1893-1972) sprach von Naturform als ‚Leistungsprinzip'. Eine Instrumentalisierung des Begriffs Organik im Sinne der Arbeitstheorie und Politik in den Frühstadien des Faschismus lag nahe. Bei einigen Ausprägungen des frühen Funktionalismus legitimierte die Arbeitsweise ‚von innen nach außen' die Definition des Organischen, bei anderen eher die natürliche Figuration etwa der Silhouette.
Bauhaus und früher Werkbund (ab 1907) räumen der Erforschung typischer Lebensbedürfnisse einen hohen paedagogischen Rang ein. "Bauen ist ein biologischer Vorgang" (Hannes Meyer). Gropius versucht einen Balanceakt zwischen neuer Lebenskultur und Rationalismus.
Faschistische Sozialtheorien (Volkstümelei, Blut- und Rassenideologie und Biologismus gegen rationalistische Moderne) führen u.a. zur Auflösung des deutschen Bauhauses.

Gegenwart
Entsprechend der Nachkriegsschelte von Ernst Bloch (1885-1977) in ‚Das Prinzip Hoffnung' zur Korrektur des platten Funktionalismus der Nachkriegszeit in Europa, wird seit den 60-er Jahren auf drei Ebenen eine immer heftigere Diskussion über die Architektur und das Organische geführt. Ein Diskussionsstrang begreift das Organische als oekologischen Topos (wirtschaftspolitisch, ethisch etc.), ein zweiter sucht nach dem Organischen als Denkschema (wissenschaftlich, philosophisch und künstlerisch etc.), ein dritter lässt das Organische als Bild-Ideal wieder auftauchen. Wir werden allen drei Anregungen nachgehen.

  1. Oekologie, die Besinnung auf die materielle Leistungsfähigkeit der Natur.
    Besonders seit den Feststellungen des Club of Rome wird die technische Welt auf die beschränkten Resourcen der Natur (Stoffe und Energien) aufmerksam. Die weltweite Nutzung und Ausbeutung im kapitalistischen Handelssystem wird politisch thematisiert. Wohl und Wehe der Menschheit sind abhängig von den Einsichten in Wachstum, Erhaltung, Ausbeutung und Zerstörung der Reserven. Folgerichtig hat sich die Architekturdiskussion über Landzerstörung Niedrig-Energiehäuser, Begrünung usw. ständig ausgeweitet.
      
  2. Das Organische als (ein positives) Denkschema d.h. als Methode.
    Viele Modelle rationalisierter Naturformen sind in den letzten Jahren in das Repertoire von Architekten und Architekturtheoretikern eingegangen, so z.B. Faden-, Netz- und Zellstrukturen als Entwurfsschemata, Bauen als Entwicklungsmodelle (bei Christopher Alexander, im holl. Strukturalismus usw.). In der Nachfolge von Friedrich Nietzsche sind die klassische Lebensphilosophie (Wilhelm Dilthey) und neue Leibphilosophien (Hermann Schmitz, Gernot Böhme) hervorgetreten, die starken Einfluß auf neue Architekturtheorien haben. Biologische Evolutionslehren formulieren neuerdings Theorien zur "biologischen Unsterblichkeit" von Zellen, Organen (Tissue-Ingeneering etc.), die weltweit Aufsehen erregen und auch versuchen, auf architektonische Entwurfstheorien einzuwirken (Koolhaas, Lynn, Watanabe). Man spricht von selbstgenerierenden Systemen in Analogie zur Natur, digitalem Animismus, Agententechnologie, artifical lifesystems etc.. Auch die Formen der Natur selbst, besonders pflanzliche, werden aufmerksam als architektonische Matrizen beobachtet (Biotektur, Kalberer, Le Roy etc.).

  3. Das Wiederauftauchen des Organischen als Bildideal.
    Da sind die neuen Weltbürger, die den Cyberspace als "andere Natur" erfinden, angeregt zunächst durch das Motiv der barocken Falte bei Leibnitz, auf das die neue französische Philosophie (Gilles Deleuze) aufmerksam macht. Neue Raumkonzepte entwickeln sich aus Faltungen, Knickungen, Blobs, Bubbles und weichen Formen, die an Knoten, Zwiebeln, Wurzeln, Mikroorganismen und Vögel erinnern (Greg Lynn, Ben Berkel, Lebbeus Woods, Santiago Calatrava etc.).
    Auf naive Naturbilder lassen sich die postmodernen Märchenerzähler ein, die das Gewachsene wieder als Ornament benutzen (Charles Moore, Friedensreich Hundertwasser u.a.). Bedeutender mag der Zugriff von Josef Beuys auf die magische Dimension der Naturkräfte sein, die in Fett, Honig, Filz und Holz sich zeigt. Maler, Objektkünstler und Architekten führen mit geradezu religiöser Intensität Körper, Organismen und Organe als magische Objekte vor (Pichler, Nitsch, Laib etc.). Nicht nur die Demonstration lebender Haut und toter Embryonen wird zum theaterhaften Spiel mit Todesfurcht und Todessehnsucht, - und das nicht nur in Wien. Mit mythischen Bildern werden die Grenzen des Phaenomens des Organischen beschworen.

So tritt in ausdrucksvollen Formen erneut die Sehnsucht hervor - wie schon oft im Laufe der Theoriegeschichte der Architektur -, das Bauen und das Organische einmal materiell und pragmatisch, einmal philosophisch und poetisch miteinander zu verbinden.