Wolfgang Meisenheimer

Akademiereihe heft 8

Architektur im öffentlichen Bewusstsein. 2006.

Akademie des Deutschen Werkbundes 2006, Bonn-Venusberg

Inhalt:    

Wolfgang MeisenheimerEinführung in den Themenkreis
Christoph Zöpel Architektur und Politik. Die gebaute Umwelt im öffentlichen Bewusstsein
Hans HoornKommunale Architekturpraxis, Bürgerbeteiligung, Gestaltungsbeiräte etc.
Tomas RiehleArchitektur und Fotografie
Heinz Rölleke Architektur in Märchen und Sagen
Matthias Schmitz Etwas über Geld. Der ökonomische Rahmen für die Rezeption von Immobilien
Thomas SchriefersArchitektur und Design in Ausstellungen
Kurt ReinhardtVerständlichkeit. An wen wendet sich Architektur / wendet sich Design „als Sprache“?
Roland Günter  Der Werkbund und die Öffentlichkeit
Welche Öffentlichkeit hat der WB 1907 angesprochen, welche spricht er heute an?

Referenten:

Prof. Dr. Wolfgang Meisenheimer (Architekt, Architekturtheoretiker), Leitung Akademie DWB NW, Düren, Dr. Christoph Zöpel (Staatsminister a.D.), Bochum, Hans P.G. Hoorn (Stadtplaner), Maastricht, Tomas Riehle (Fotograf), Köln, Prof. Dr. Hein Rölleke (Literaturwissenschaftler, Uni Wuppertal), Neuss, Dipl.-Ing. Matthias Schmitz (Architekt, Immobilienkaufmann), Grevenbroich/Frankfurt, Dr. Thomas Schriefers (Architekt, Ausstellungsmacher), Köln, Kurt Reinhardt (Physiker, Philosoph), Essen, Zeche Zollverein, Prof. Dr. Roland Günter (Kunsthistoriker, Kulturphilosoph), 1. Vors. DWB.NW, Oberhause

 

Einführung in den Themenkreis

Definitorisch ist zunächst das Selbst-Bewusstsein als Erlebnis des wahrnehmenden, erkennenden Ich gegenüber den Dingen der Welt und anderen Menschen zu unterscheiden vom Du-und-Wir-Bewusstsein, das die Grundlage für die kommunikative Gemeinsamkeit des Menschen mit „den anderen“ ist, seiner Familie, der Nachbarschaft, Heimat, Volk, Institutionen und vielen Formen des gesellschaftlichen Lebens. Der architektonische Raum ist bereits ein bedeutender Erlebnisgegenstand des wahrnehmenden und erkennenden Ich, der mit der stufenweise sich entwickelnden Raum-Anschauung bei Kindern korrespondiert. Jean Piaget, der große Schweizer Entwicklungspsychologe, macht darauf aufmerksam, dass in der frühesten Phase des Lebens ausschließlich der „toplogische Raum“ mit seinen Strukturen (Orten, Wegen, Richtungen, innen/außen- und Enge /Weite-Empfindungen, Grenzen usw.) die entscheidende Rolle spielt, später erst „projektive“ Strukturen (räumliche Tiefe, Verkürzungen, Nähe /Ferne usw.) und noch später im Entwicklungsverlauf „euklidische“ Strukturen (Rechtwinkligkeit, Parallelität, Mathemazität einer räumlichen Ordnung). In unserem Themenzusammenhang soll allerdings die Entwicklung der kommunikativen, gesellschaftsbezogene Sensibilität für Raum im Mittelpunkt stehen und vor diesem Hintergrund das befriedigende oder unbefriedigende Angebot der Architektur.

Ist die Architektur in der Lage und welche Formen bietet sie an, die Raumbedürfnisse der Menschen in den Phasen der Entfaltung ihres gesellschaftlichen Lebens zu befriedigen?

  1. Kinderzimmer. Baby- und Krabbelkinderzeit.
    In der frühesten Kindheit werden die elementaren Raumempfindungen entwickelt: einen Ort besetzen, sich aufrichten, Innen von Außen unterscheiden, Enge und Weite empfinden. Zugleich mit der Entwicklung der Leibfähigkeiten entsteht das erste Verständnis für architektonische Raum-Qualitäten. Daher gehören zur primären Aufgabe der Architektur für diese Entwicklungsphase: sinnliche Wirkung der Materialien, starke Erinnerungsqualität der Raumformen und des Lichtes, Kontrastreichtum, mythische Raumqualitäten („Höhle“, „zuhause“ etc.) und einfache, körperbezogene Arten der Nutzung. Die Korrespondenz von Leib und Architekturraum als Ausdruckswelt ist in dieser Phase stärker ausgeprägt als jemals danach im Menschenleben.

  2. Elternhaus /Nachbarhaus. Kindheit /Jugend.
    Die „Welt“ löst sich ab vom Mama-Bezug. In einer ersten Phase der Zivilisierung werden die Dingwelt und die Menschenwelt AUSSERHALB des eigenen Zimmers und des Elternhauses entdeckt: das Fremde, die Interessen der anderen, die nächste Nachbarschaft. Die Abenteuer der Grenzüberschreitung führen zur Erfahrung anderer Interessen als der eigenen, auch aber zum Interesse am Bewahren und Wiederfinden, zum Staunen wie zum Respekt vor dem Unbekannten. Zur Artikulation einer „Welt außerhalb des Selbst“ gehört die Bemühung um Balance zwischen Eigenem und Anderem, die Organisation eines Nachbarschaftsraumes und des räumlich artikulierten WIR. Architektonische Strukturen sollten helfen, diese Balance zwischen Heimatlichem und Fremden zu formulieren. Die fortschreitenden Restriktionen des Selbst durch Tabus hat Norbert Elias als DIE Geschichte der Zivilisation beschrieben. Zur Artikulation des Heimatlichen gegenüber dem Fremden gehört wohl auch das Aufkommen musealer Bedürfnisse: Fremdes /Exotisches auszustellen und zu verwahren.

  3. Architektur für die Single-Existenz. Erwachsen-sein.
    Jeder Mensch sehnt sich nach der Spezifizierung seines Selbst, indem er sich von seiner natürlichen Familie und ihren Orten löst und beginnt, als Einzelner „Wahlverwandtschaften“ aufzubauen. Die „Konstruktion“ des individuellen Schicksals geschieht durch wechselnde Kombinatorik von sozialen, kulturellen, beruflichen und religiösen Formen sowie den Kontakt mit sympathischen Menschen, denen sich der Einzelne mit seinen Erwartungen annähert. Indem die individuelle Orientierung des Selbst entsteht (eine eigene „Welt“ und „Umwelt“) erscheinen neue Autoritäten und soziale Bezüge und damit auch das individuelle Bewusstsein politischer Bezüge und zugleich die Wahl der Partner und der „Spielorte“. Die Architektur spiegelt besonders im Stadtraum (der Anteil an Single-Wohnungen beträgt in einigen Großstädten über 50 % und steigt immer weiter!) die Sehnsucht des Menschen nach „Selbstverwirklichung“ durch eine geradezu chaotische Fülle von Formen, funktionalen und ästhetischen Erlebnisschichten. „Stadtgestalt“ im Sinne von homogenem Stadtraum, der dem Ideal einer bestimmten sozialen, politischen oder kulturellen Gesellschaftsschicht entspricht, geht in der modernen Großstadt völlig unter gegenüber der Komplexität überwältigender und ständig wechselnder Single-Interessen. Typische Architekturformen für die Single-Welt haben – wegen der Schnelligkeit des Wechsels und der Inhalte – „Container-Charakter“, d.h. wenig festgelegte Ästhetik, aber hochwertiges technisches Equipment, digitalisiert, ausbaufähig und auf dem neuesten Stand der Geräteentwicklung.

  4. Architektur für das Alter.
    Mit dem Nachlassen der Körperkräfte und fortschreitender Unbeweglichkeit wird die Sehnsucht nach den verlässlichen, bleibenden Orten wieder stärker. Das Sammeln der eigenen Lebensspuren (Heimat und Eigentum) verstärkt die Sehnsucht nach den „eigenen vier Wänden“. Deshalb ist die technische und soziale Unterstützung alter Menschen bei weitem wichtiger als die Erfindung neuer und spezieller Architektur für das Alter. Einzig das Angebot qualifizierter Pflegestationen für die letzte Phase des Lebens ist unumgänglich.

    Ist die Architektur von heute qualifiziert für die sozialen Erwartungen in den verschiedenen Phasen des Lebens?

    In einer groben Bewertung scheint in Mitteleuropa die Wohnkultur für das früheste Leben (Kinderzimmer, zuhause) auf hohem Niveau. Innenarchitektur, Möbel und hilfreiches Design haben seit dem letzten Krieg eine erstaunliche und weit verbreitete Qualität erreicht. Die sinnvolle Gestaltung von Nachbarschaft im architektonischem Raum ist bedeutend schwächer. Historisch vorgegebene Ensembles wirken hilfreich, neue Formen der Nachbarschaftlichkeit gelingen aber nur selten. Die Stadtentwicklung ist mit ihrer chaotisch überbordenden, komplexen Tendenz für Lebensformen von Singles merkwürdigerweise hochwillkommen. Man wohnt für kurze Zeit zum Beispiel gern in einer ungenutzten Fabrik, das Leben ist dem Jetzt wie dem Gestern verbunden und radikal selbstverantwortet. Die gestalterisch homogene Idealstadt nach den Vorstellungen der klassischen Moderne bei Mies, Gropius, Le Corbusier etc. existiert nur in musealen Residuen, wenn überhaupt, denn die moderne Gesellschaft hat sich nicht als eine Nachbarschaft gleicher Schicksale entwickelt, sie ist vielmehr widersprüchlich, fraktal und sprunghaft sich verändernd. Die städtebauliche Wahlheimat der modernen Nomaden ist collagiert und wird nie mehr eine einheitliche sein.

    Welche ästhetischen, moralischen und erzieherischen Einfluss könnte neue Architektur denn auf die Lebenswelt des Menschen von heute haben?
    So vielschichtig und in sich widersprüchlich das Leben der modernen Nomaden auch ist, - seine Funktionalisierung und Rationalisierung nimmt zu – nicht nur in der Arbeitswelt. Die Grundstruktur des öffentlichen Lebens ist leistungsorientiert und in ihren Qualitäten messbar. Dem entspricht die Pflege des menschlichen Leibes; diese folgt den Forderungen der Mediengesellschaft, sie wird immer anspruchsvoller technisch organisiert. Der Leib und sein unmittelbarer Umraum, Haut, Kleidung, Innenarchitektur, wird zunehmend ein diätetisch kontrollierter. Genormte Ideale von Hygiene, Schönheit und Komfort setzen sich durch, deren Erfüllung hoch bezahlt wird. Eine Art Gerätepark wird um den Leib herum angeordnet und sorgfältig gepflegt, um seine Schnelligkeit, Zuverlässigkeit und Leistungsfähigkeit zu erhalten. Dem „diätischen, funktionalisierten“ gegenüber fällt der „natürliche Leib“ weit zurück, der Naturzustand des Körpers, das Gefühl für das eigene Ich, seine Besonderheiten und Sehnsüchte, allgemein auch der Sinn für Natur als Erlebnisraum. Angesichts dieser Problematik zeigt sich meines Erachtens eine der Hauptaufgaben der neuen architektonischen Moderne – insbesondere des Werkbundes. So wie neben dem leistungsbetonten, genormten Leibbewusstsein der natürliche eigene, individuelle Leib akzeptiert, d.h. mit Lust angenommen werden muss, so müssen neben den rationalen und funktionalistischen Strukturen des architektonischen Raumes solche entwickelt werden, die das Spüren der eigenen Haut, das Wiedererkennen der persönlichen Orte, das Individuelle, Heimatliche betonen, kurz: die Erwartungen des natürlichen Leibes und seines Wohlgefühls, sinnlich- poetisch und atmosphärisch. Die rationale Welt der Architektur im öffentlichen Bewusstsein wird gewiss in ihrer Leistungsfähigkeit immer weiter gesteigert werden, aber die Spiegelung des „natürlichen Leibes“ muss durch architektonische Formen, ausdrucksvolle Gestaltung von Materialien, Lichtqualitäten und atmosphärische Nuancen - als ein Angebot einer Entwicklung zur Balance – hinzukommen. Diese beiden Erlebnisstrukturen, nämlich die messbare, rationale und die emotionale, sinnliche Welt müssen wir auch auf der architektonischen Bühne gleichermaßen präsentieren. Sie sollten einander ausgleichen und steigern.


Wolfgang Meisenheimer