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Was verstehen wir in der Architektur unter "Strukturen"?
Dokumentation eines Seminars zu Fragen der Architekturtheorie veranstaltet im Lehrgebiet Grundlagen des Entwerfens (Prof.Dr.-Ing. Wolfgang Meisenheimer) durch den Fachbereich Architektur der Fachhochschule Düsseldorf im WS 1975/76
Inhalt:
Wolfgang Meisenheimer | Einführung in den Themenkreis |
Alfred Goertz | Zum Strukturbegriff in der Mathematik |
Volkhart Rudert | Der Begriff der Struktur in der Mineralogie und seine Abgrenzung zu den Begriffen Gefüge, Textur und Tektonik |
Sylvia Hettenhausen /Ilka Zander | Struktur und Gestalt in der ZERO-Kunst |
Jupp Ernst | Struktur der Materie - ästhetisch |
Wilfrid Jochims | Musikalische Organisation |
Wolfgang Meisenheimer | Zur Abgrenzung einer strukturalen Architektur-Theorie |
Friedrich Chr. Wagner | Formale Strukturen der Architektur |
Franz Anton Lenze | Struktur, Konstruktion, Tektonik |
Heinz Behrendt | Element und Struktur |
Jürgen Pahl | Stadtstrukturen |
Referenten- Verzeichnis:
Prof.Dipl.-Ing. Heinz Behrendt, FHD, lehrt "Entwurf Architektur" und "Planungs-Systematik", Prof. Jupp Ernst, Hochschule für Gestaltung Kassel, Dr. Alfred Goertz, Uni Köln, Institut für anorgan.Chemie, Sylvia Hettenhausen, Dipl.-Ing.Architekt, Prof. Wilfrid Jochims, Musikhochschule Köln, lehrt "Gesang" und "Phoniatrie", Dipl.-Ing. Franz Anton Lenze, LB FHD, lehrt "Baukonstruktion IV", Prof.Dipl.-Ing. Jürgen Pahl, FHD, lehrt "Stadt- und Regionalplanung", "Einführung in die städtebauliche Planung" und "Stadtbaugeschichte", Dr. Volkhart Rudert, Uni Köln, Mineralogisch-Petrographisches Institut, Dr.-Ing. Friedrich Christoph Wagner, FHD, lehrt "Gestaltungslehre", Ilka Zander, Architektin, Dipl.-Ing. Architekt.
Einführung in den Themenkreis
In allen naturwissenschaftlichen Disziplinen spricht man von "Strukturen", um bestimmte Ordnungssysteme zu bezeichnen, z.B. in der Mineralogie, in der Molekularbiologie oder in der Verhaltensforschung. Die Mathematik der Bourbaki-Gruppe benutzt Struktur-Begriffe für ihre neuen Grundlagen-Forschungen. Verschiedenste Geisteswissenschaften haben andere und andere Struktur-Begriffe definiert, um bestimmte Ordnungen ihrer Gegenstände zu charakterisieren. Ähnliche Versuche gibt es in der Kunsttheorie verschiedener Disziplinen und schließlich in unserem eigenen Fach, der Architektur-Theorie.
Immer aber geht es um dieses Prinzip:
- Die Ordnungseigenschaften der betreffenden Gegenstände müssen beschrieben werden.
- Diese Beschreibungen haben Modellcharackter, d.h. sie sind Darstellungen von bestimmten Zügen der Wirklichkeit.
- Die Modelle haben System-Eigenschaften, d.h. in ihnen sind Elemente und deren Verhältnisse zueinander so beschríeben, daß sie ein Ganzes bilden.
- Modellstrukturen werden möglicherweise in ständigen Verwandlungen und Übergängen gedacht.
So sagt z.B. der Anthropologe Levi-Strauss zum Modell-Charakter sozialer Strukturen: "Das Grundprinzip ist, daß der Begriff der sozialen Struktur sich nicht auf die empirische Wirklichkeit, sondern auf die nach jener Wirklichkeit konstruierten Modelle bezieht." (Strukturale Anthropologie, Paris 58, Suhrkamp-Taschenb. 15, S. 301).
Und zu ihren System-Eigenschaften:
"Wir glauben, daß Modelle, wenn sie den Namen Struktur verdienen sollen, vier Bedingungen unbedingt erfüllen müssen:
- zeigt eine Struktur Systemcharakter. Sie besteht aus Elementen, die so angeordnet sind, daß die Veränderung eines von ihnen eine Veränderung aller übrigen nach sich zieht,
- gehört jedes Modell zu einer Gruppe von Umwandlungen, deren jede einem Modell derselben Familie entspricht, so daß das Ganze dieser Umwandlungen eine Gruppe von Modellen bildet,
- erlauben die eben genannten Eigenschaften vorauszusagen, wie das Modell bei einer Veränderung eines seiner Elemente reagieren wird,
- muß das Modell so gebaut sein, daß es allen festgestellten Tatsachen Rechnung tragen kann". (Strukturale Anthropologie, S. 301 f.)
Zu dem entsprechenden Thema in seinem Fach der Historiker Karl-Georg Faber: "Struktur ist ein System von Elementen, die funktional aufeinander bezogen sind und zwar so, daß die Veränderung eines von ihnen die Veränderung aller übrigen nach sich zieht". (Theorie der Geschichtswissenschaft, München, 71).
Die Struktur-Theorien der Kunstgeschichte seit Riegl versuchen, mit strukturalen Modellen "zentrale Prinzipien" zu beschreiben, nach denen Einzelkunstwerke gestaltet sind. "Darin liegt die eminente Bedeutung der Theorie Riegls und seines Verfahrens: die Mannigfaltigkeit der Stilmerkmale eines Kunstwerks, die man früher rein deskriptiv hinnehmen mußte, wird jetzt ableitbar aus wenigen zentralen Gestaltungsprinzipien" ..."'Stilprinzip', 'Strukturprinzip', 'Gestaltungsprinzip' bedeuten das gleiche". (Zit. Sedlmayr bei L. Dittmann, Stil, Symbol, Struktur, München 67, S. 144).
In ähnlichem Sinne stellt die französische Historiker-Schule der ANNALES neben die "Geschichte der Ereignisse" eine "Geschichte der Strukturen". "Strukturen sind hier die historischen Triebkräfte, die großen Entwicklungs- und Wirkungszusammenhänge. Bei der Darstellung der Strukturen wird die zeitliche Entwicklung berücksichtigt: Strukturen sind sowohl Gefüge und Ordnungen als auch Entwicklungsprozesse". (K.E. Born, Der Strukturbegriff in der Geschichtswissenschaft in v. Einem, Born, Schalk, Schmid, der Strukturbegriff in den Geisteswissenschaften, Steiner Verl. Wiesbaden, Jhg. 73, Nr. 2).
Eine ganz andere Rolle spielt wiederum der Strukturbegriff in der Zeichentheorie von Max Bense. Er stellt bei der Beschreibung ästhetische Zeichen- und Superzeichenbildung 'Gestalt' und 'Struktur' einander gegenüber: "Eine ästhetische Konzeption kann unter dem Aspekt der Gestalt und unter dem Aspekt der Struktur erfolgen ... . Das Zeichen als differenziertes Gebilde, als Element, kann einem integrierenden ästhetischen Prozess unterliegen, dann entsteht Ganzheit, Gestalt. Es kann aber auch einem reduplizierenden Prozess unterliegen, dann entsteht Struktur". (Zit. bei M. Staber, Konkrete Malerei als strukturelle Malerei in Struktur in Kunst und Wissenschaft, Hg. G. Kepes, 67, N.Y., Brüssel).
Während sich also bei den Geschichtswissenschaftlern "Strukturen" jenseits der konkreten Ereignisse und Werke zu sehr abstrakten, hypothetischen Ordnungs-Schemata verflüchtigten, sind "Strukturen" bei Bense Ordnungsmerkmale bei der Bildung konkreter, ästhetischer Zeichen.
Die Fülle der Definitionen ist außerordentlich groß und inzwischen ins Uferlose ausgedehnt. "Strukturen"-Diskussion droht zu einer wissenschaftlichen Mode zu werden. Trotzdem hat der Psychologe Jean Piaget versucht, zwischen den ständig sich verändernden kritischen Haltungen der verschiedenen wissenschaftlichen "Strukturalismen" (insbesondere der mathematischen, der linguistischen, der psychologischen und der philosophischen) deren gemeinsame positive Ideale zu charakterisieren. Dabei kommt er zur folgenden vorläufigen Definition: "In erster Annäherung ist eine Struktur ein System von Transformationen, das als System (im Gegensatz zu den Eigenschaften der Elemente) eigene Gesetze hat und das eben durch seine Transformationen erhalten bleibt oder reicher wird, ohne daß diese über seine Grenzen hinaus wirksam werden oder äußere Elemente hinzuziehen. Mit einem Wort; eine Struktur umfaßt die drei Eigenschaften Ganzheit, Tranformation und Selbstregelung". (J. Piaget, Der Strukturalismus, Olten, 73, S. 8).
Die Würdigung der Geschichte der verschiedenen Strukturbegriffe und der wissenschaftlichen Strukturalismen ist für uns Architekten und Planer nur sehr beschränkt möglich. Wir sind für die Darstellung der Wissenschaftsgeschichte in keiner Weise kompetent. Wir glauben aber, ein gewisses Maß an Rundumorientierung in benachbarten wissenschaftlichen und künstlerischen Bereichen zu brauchen, um an den Versuche einer Definition spezifisch "architektonischer Strukturen" herangehen zu können. Genauer gesagt: Wir wollen zu einer zuverlässigen, d.h. wissenschaftlich weitgehend kontrollierbaren Beschreibung unserer Gegenstände, der Bauten und Pläne, kommen. Dabei sind begriffliche Modelle notwendig, die
- alle wesentlichen Eigenschaften von Bauten und Plänen unterscheidbar machen, die
- kategoriale Ordnungen (insbesondere Raum/Zeit-Merkmale) dieser Eigenschaften nachweisen und die
- in der Lage sind, die Ganzheit, d.h. das Bauwerk bzw. die gebaute Umwelt als geschlossenes System zu beschreiben.
Das Theorie-Seminar im WS 75/76 hat sich deshalb die Aufgabe gestellt, zunächst in einem Vorseminar eine Auswahl der Aspekte aus benachbarten Disziplinen näher kennenzulernen: Mineralogie (Dr. Rudert, Uni Köln)m Mathematik (Dr. Goertz, Uni Köln), Malerei Hettenhausen /Zander, FH Düsseldorf), Produktgestaltung (Prof. J. Ernst, Hochschule f. Gestaltung, Kassel) und Musik (Prof. W. Jochims, Musikhochschule Köln).
Im Hauptseminar machten dann Dozenten unseres Fachbereichs den Versuch, zur Definition spezifisch "architektonischer Strukturen" vorzustoßen. Das geschah von verschiedenen disziplinären Richtungen her, insbesondere von der Gestaltungslehre (Prof. Dr. Wagner) sowie von der technisch-konstruktiven Seite her (Prof. Behrendt, Dipl.-Ing. Lenze). außerdem machten wir den Versuch einer Gesamtdarstellung aller Strukturen, die unseren Gegenstand, das gebaute Ding bzw. größere Einheiten unserer gebauten Umwelt ausmachen (der Verfasser und Prof. J. Pahl). Solche Versuche nähern sich dem Entwurf einer geschlossenen Theorie der Analyse einerseits und einer Planungstheorie andererseits. Freilich lag genau hier, bei der Frage nach der Möglichkeit und der Brauchbarkeit solcher Theorien, der Anstoß zu unserer Diskussion.
Vielleicht sind theoretische Modelle nur dann eine echte Arbeitshilfe für die Studenten, wenn sie einfach und praktikabel sind. Vielleicht sind aber allzu simple Arbeitsmodelle nicht differenziert genug, um im Beziehungsnetz der Systeme der notwendigen Hilfswissenschaften leistungsfähig zu sein. Vielleicht können wir uns aber doch gemeinsam um Grunddefinitionen d.h. um eine exakte theoretische Basis und um einen umfassenden theoretischen Rahmen bemühen, während die Frage nach dem Grad der Anwendbarkeit bei jeder einzelnen Aufgabe (Analyse und Entwurf) von jedem von uns jedesmal neu und anders beantwortet werden kann. Bei der Komplexität unserer Aufgaben reicht intuitives Arbeiten allein nicht mehr aus. Gerade für die schöpferischen Stufen der Arbeit müssen wir eine wissenschaftlich exakte und systematisch brauchbare Grundlage schaffen.