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Das Menschenbild in der Architektur
Dokumentation eines Seminars zu Fragen der Architekturtheorie im Lehrgebiet Grundlagen des Entwerfens (Prof. Dr.-Ing. Wolfgang Meisenheimer) durch den Fachbereich Architektur der Fachhochschule Düsseldorf im SS 1985 in Rolduc /Holl.
Inhalt:
Wolfgang Meisenheimer | Einführung in den Themenkreis |
Jürgen Pahl | Architektur ist politisch: Sie ist Ausdruck der Gesellschaft, die sie erzeugt |
Manuel Ruf | Architektur als Selbstdarstellung eines einzelnen kreativen Menschen |
Inge Boskamp | Wandlungen bürgerlicher Wohnideale in der Bundesrepublik |
Wolfgang Pohl | Das Gemeinschaftliche und das Selbst - Über den Aufforderungscharakter einiger (baulicher) Grundmuster |
Hans G. Hofmann | Architektur die tötet, Architektur die belebt |
Peter C. Riemann | Der Neue Klassizismus - Architektur mit Bildungsauftrag |
Dieter Fuder | Das Zeichen als Ideologem, Aspekte postmoderner Architektur |
Arnold Wolff | Kirchenbau für den Menschen |
Friedrich Christoph Wagner | Architektonische Form - Darstellung des Menschenbildes |
Karsten K. Krebs | Das Bauwerk als Kunstwerk, Architektur l'art pour l'art |
Referenten- Verzeichnis:
Prof. Dr.med. Hans Günter Goslar, Anatomisches Institut der Univ. Düsseldorf, Günter Baum, Dipl.-Ing. Architekt, Prof. Dipl.-Ing. Günther Kühbacher, FHD, lehrt "Baukonstruktion und Entwerfen", Dipl.-Ing. Burkhard Grashorn, Architekt, Uni Dortmund, Dipl.-Ing. Werner Ruhnau, Architekt, Essen, Prof. Dr. Klaus Pfeffer, FHD, lehrt "Baugeschichte und Bauaufnahme", Dr. Tebbe Harms Kleen, Intendant des Landestheaters Coburg, Prof. Klaus Rinke, Bildhauer, Staatliche Kunstakademie Düsseldorf.
Einführung in den Themenkreis:
Vor dem Einstieg in die Frage nach dem Menschenbild in der Architektur ist es notwendig, die Entwicklung der modernen Anthropologie, der Lehre (lógos) vom Menschen (ánthrópos), in groben Zügen nachzuzeichnen.
Anthropologie kann zuerst und zunächst in naturwissenschaftlich-biologischem und medizinischem Sinne verstanden werden als Urgeschichte und Rassenkunde, als Abstammungs- und Vererbungslehre, als Zoologie des menschlichen Körpers und als medizinische Anthropologie (Physiologie, Anatomie etc.). Der "homo sapiens" wird hier vorgestellt als eine Unterart der Herrentiere (Hominiden) neben den Halbaffen und Affen, als das geistig höchst entwickelte Säugetier, das ursprünglich wohl als Steppenbewohner lebte. Es ist durch aufrechten Gang und durch verstärkte Ausbildung des Großhirns ausgezeichnet (1300-1450 cm3 = 1220-1350 gr bei Erwachsenen), gleichzeitig aber durch eine bemerkenswerte Rückbildung der Instinkte, Haarlosigkeit, verkürzte Schnauze, progressiv vorspringende Nase, aber vermindertes Riechvermögen, stark durchblutete Lippen, extreme Hautempfindlichkeit, besondere Ausdruckskraft der Resthaarflächen - etwa der Augenbrauen - und hohe sinnliche Intelligenz der Hände als Tastwerkzeug und als Organe einer differenzierten Gebärdensprache. Ihnen ist eine besonders große Region im Vorderhirn zugeordnet ...
Das "menschliche Tier" hat 212 Knochen, 25 davon sind Knochen des Schädels. Auf neun Monate vorgeburtliche Entwicklung folgen viele Jahre der unselbständigen kindlichen Reifung. Im Hinblick auf die Dauer der Reifezeit (langes Offenbleiben der Schädelnähte nach der Geburt, Ausbleiben der Entwicklung von Verteidigungswerkzeug, z.B. Krallen, Behaarung - verstanden als Verharren im Embryonalzustand) spricht man von "Retardation".
Der ánthrópos hat nun seit den frühesten Zeiten seiner Zivilisierung Ideen über sein Dasein sowie seine Beziehung zur ganzen Welt entwickelt. Diese Ideengeschichte wird seit dem 17. Jahrhundert als "philosophische Anthropologie" formuliert. Bis zu deren wissenschaftlichen Anfängen galt in Europa das alte christliche Dogma, nach dem Gott den Menschen geschaffen hat. Der Leib stamme von den Ur-Eltern Adam und Eva, die Seele des einzelnen Menschen aber werde von Gott jeweils neu geschaffen: ein dualistischer Mythos.
Das erste geschlossene wissenschaftliche Modell vom Menschenbild stammt von René Descartes (1596-1650). Es unterscheidet sowohl im Hinblick auf die Welt als auch im Hinblick auf den Menschen zwei Grundsubstanzen, eine "res extensa", das Körperliche, Ausgedehnte und eine "res cogintans", den denkenden Geist. "Der Mensch ist eine Maschine, in der ein unsterblicher Geist wohnt". Die durch dieses Denkmodell installierte dualistische Unterscheidung prägt seit dem 17. Jahrhundert sowohl das wissenschaftliche als auch das Vulgär-Denken. Geist und Körper, Seele und Leib, Subjekt und Objekt erscheinen auch als mehr oder weniger getrennte Gegenstände der Untersuchung in Geisteswissenschaften und Naturwissenschaften. Nicht nur Physik, Chemie und Biologie sind seitdem - vor allem auch durch die großartige mathematische Instrumentierung von Descartes Philosophie durch Isaac Newton - vorwiegend mechanistisch und reduktionistisch betrieben worden, sondern auch Logik, Sprachwissenschaft, Psychologie und andere Geisteswissenschaften, die analog zu naturwissenschaftlichem Denken ihre Forschungsgegenstände erklären, indem sie sie in Elemente und kausal verknüpfte Systeme zerlegen: in "Maschinen". Auch das institutionalisierte religiöse Denken hat bis in unsere Zeit den Menschen auf verhängnisvolle Weise in Leib und Seele gespalten.
Abweichend von dieser Linie dualistischen Denkens haben die philosophischen Bewegungen des "Deutschen Idialismus" (Kant, Fichte, Schelling, Hegel) die Wendung auf das Subjekt verstärkt. Die Wirklichkeit ist hier jedenfalls eine "ideale", ist zunächst abhängig vom Bewußtsein. Extrem wird diese These von Fichte formuliert, der das Bewußtsein selbst als die objektiv wahre Welt bestimmt; die Außenwelt erscheint als ein Produkt des Ich (Solipsismus). Kant erklärt in seinem transzendentalen Idealismus, es gebe zwar eine unabhängige Außenwelt, sie sei aber nur greifbar, erlebbar, erkennbar in den Formen des erkennenden Subjekts, nicht "an sich". Auch bei Hegel ist die gesamte Wirklichkeit nur von der Idee her zu begreifen...
Die moderne Anthropologie wurde am Anfang dieses Jahrhunderts vor allem durch Max Scheler begründet ("Die Stellung des Menschen im Kosmos" 1928). Der Mensch wird hier nicht durch seine Abstammung von Gott definiert, sondern durch seine Unterscheidung vom Tier. Der Mensch erscheint in Bezug auf Intelligenz und Phantasie dem Tier nicht unähnlich, zum mindesten nur graduell verschieden. Der Werkzeug-Gebrauch aber, die Art seiner Erfindungen zeigt seine Charakteristik. Gerade die Ablösung von biologischen Funktionen, das "Nein-Sagen", die Distanzfähigkeit gegenüber seinen Trieb-Impulsen hebt die Welt des Menschen von tierischer Umwelt ab. Jetzt wird - auch im Hinblick auf medizinische Anthropologie - verständlich, daß Tiere fortschreitende organische Spezialisierungen erfahren, indem sie sich ihrer sich verändernden natürlichen Umwelt passiv anpassen, daß Menschen dagegen biologisch unspezialisiert sind, vielmehr hochgradig und fortschreitend zivilisiert, d.h. aktiv Umwelt verändernd, Welt setzend. Dies ist auch ein Ergebnis aus Norbert Elias Geschichtsanalyse "Über den Prozeß der Zivilisation" (1936), nach der die Entwicklung der kulturellen Ordnungen zugleich von einer ständig fortschreitenden Trieb-Tabuisierung begleitet ist.
Arnold Gehlen hat in neuerer Zeit ("Anthropologische Forschung" 1961) den Menschen als ein primär handelndes Wesen definiert, das notwendig auf Korrektur und Ersatz, d.h. auf Veränderung der Natur gerichtet ist. Den "natürlichen" Menschen gibt es nicht. Vielmehr ist der Mensch als sinnliches Mängelwesen dabei, durch "Probier-Bewegungen" (trial und error), d.h. durch rückläufige Steuerungsprozesse seine zivilisatorischen Erfahrungen ständig zu erweitern. Der Mensch geht in prometheischem Drang soweit, selbst die Naturbedingungen zu ändern. Er versucht, sie sich immer wieder neu zurechtzulegen, eine "zweite Natur" zu schaffen. Gerade in den letzten Jahren wird uns gerade durch die "Öko-Bewegungen" bewußt, wie weit die Risikobereitschaft des Menschen in seinem Tatendrang geht - und wie schwach das philosophische und politische Bewußtsein davon gereift ist. Karl Popper zeigt auf, daß die Entwicklung der Menschheit zwar auf immer neue materielle und ideelle Modelle angewiesen ist, daß diese aber nur zu "besseren" Entwicklungen führen, wenn sie ständig kritisch geprüft werden.
Vielleicht ist es nicht sinnvoll, von "dem" Menschenbild zu sprechen. Vielmehr müssen wir den Pluralismus gewachsener und ständig sich verwandelnder Gesellschaftssysteme anerkennen. So versucht die Sozialanthropologie (etwa Alexander Mitscherlich) zu erforschen, für wen aufgrund welcher Erziehung, Umwelt usw. welches Menschenbild angemessen erscheint. Der Untersuchungsraum "Stadt" erscheint als der Kampfraum für die Fortschritte der Menschheit. Demokratie wird dabei als ein Gesellschaftssystem deutlich, in dem alle Beteiligten die Möglichkeit haben, ihre Konflikte auszutragen unter Berücksichtigung der Interessen von Gegnern. Der Mensch ist wesentlich ein soziales Wesen.
In neuester Zeit haben milieutheoretische Ansätze anthropologischer Forschung (z.B. Skinner 1971) den Einfluß der gesellschaftlichen Umwelt extrem hoch eingestuft. Nur die Umwelt (natürliche sowie zivilisatorische Umwelt) präge Habitus und Verhalten der Menschen.
Andererseits betont z.B. Eibl-Eibesfeld ("Der vorprogrammierte Mensch" 1973), in der ererbten Genstruktur liege die entscheidende, für alle Menschen verbindliche Bezugsbasis. Sie werde zwar kulturell modifiziert, liege aber als biologische Einheitsmatrix allem Verhalten zugrunde. Biologische Einheit und kulturelle Vielfalt beim Menschen stehen angeborenen Triebmustern verbunden mit festen Ablauffolgen beim Tier gegenüber.
Ich möchte diese überaus kurze Erinnerung an die Denkmodelle der philosophischen Anthropologie nicht beenden, ohne zwei oder drei Beobachtungen bzw. Ideen zum Wesen des Menschen noch einmal hervorzuheben, die mir für die Arbeit mit Architektur als besonders wichtig vorkommen.
Hoffnungsvolles/Bedenkliches zur Kulturgeschichte des Menschen
Die Erfahrung - ein notwendiger Prozeß der Bestätigung und Enttäuschung von Vorurteilen, eine ständige Erprobung von Modellen, Vorentwürfen, Erwartungen, Projekten; sie ist ein Lernen bis ins hohe Alter. Das Suchen ist unsere tiefste Sehnsucht. Es gibt Neugier des Geistes und es gibt Gelehrigkeit der Sinnesleistungen bis zum Tode. Eine unendliche Bereitschaft zu Entdeckungen gehört zu den bedeutenden Anlagen unseres Lebens: Fragelust, Einfallsreichtum, Sehnsucht nach Welt (im Schelerschen Sinne). Die grundsätzliche Bereitschaft, eine Weltordnung selbst zu erzeugen ist das höchste, das entscheidende Potential der Menschheit.
Jedoch: Die Einführung der Symbole - notwendiges Werkzeug bei der systematischen Loslösung von der natürlichen Triebwelt - verdeckt mehr und mehr Möglichkeiten des Wahrnehmens und des Erlebens. Zwar befreit die Einführung der Symbole, der Sprachen, der visuellen und akustischen Zeichen, der "Ersatz-Welten" von der Notwendigkeit ständig erneuerter sinnlicher Erfahrung. Wir müssen die Dinge nicht mehr tasten oder riechen - es genügt, wir sehen sie, es genügt sogar, wir sehen ihre Darstellungen. Die Fähigkeit und Kompetenz der Augen, uns in Welt und Umwelt zu orientieren, hat alle anderen Sinne erschreckend an Fähigkeit und Bedeutung schrumpfen lassen. Wir sehen nicht nur die Gestalt, sondern auch Eigenschaften wie das Weich-, Hart-, Warm-, Glatt- oder Rutschig-Sein. Wir sehen in den Fragmenten visueller Zeichen sogar die Funktionswerte, die Umgangsqualitäten der Dinge. Deren sinnliche Vielschichtigkeit wird in unserer hochsymbolisierten Welt überflüssig, ja hinderlich... Diese zivilisatorische Entwicklung führt zu der Frage: Wollen wir in einer durchrationalisierten Umwelt leben, die sinnlich verkrüppelt? Für jeden, der sich öffnet zu fühlen, zu hören, zu tasten, ist der sinnliche Qualitätsverlust der zivilisierten Welt schmerzlich offenbar.
Und weiter: In welcher Richtung liegen unsere notwendigen Utopien? Welche Merkmale hat der Entwurf eines Menschenbildes, das wir brauchen? Zunächst scheint mir, kann die Suche nach einem neuen Menschenbild keinesfalls reduktionistisch/mechanistisch verfahren (Gen-Manipulation, chirurgische Korrektur, zielgelenkte Kindererziehung, Krieg zur Vernichtung von Gegnern). Es scheint mir auch ein Irrweg, "den Naturzustand" wieder herstellen zu wollen - diesen nämlich gibt es nicht und gab es nicht. Wenn man "Naturzustände" formuliert hat, handelte es sich immer um ideenhafte Konstrukte. Vielmehr müssen wir sinnvolle "Zwischen-Welten" schaffen, in denen unsere Projekte in einem ausgewogenen Verhältnis zur vorgegebenen Natur stehen, so wie wir sie jeweils begreifen. Der Raum um uns herum ist zu gestalten (d.h. nach Ganzheits-Modellen zu behandeln), indem er Strukturen unserer Leibordnung darstellt ("figurative Gestaltung") und Strukturen der jeweiligen Gesellschaft spiegelt ("soziale Gestaltung"). Auch diesseits der Zwecke sollte sinnliche Qualität hervorgebracht, sinnliche Lust herausgefordert werden. Statt funktionaler Einfalt brauchen wir die Vielfalt der sinnlichen Qualitäten sowie der Ideenwelt. Das aber wird nie eine Expertengesellschaft leisten. Das Modell einer solchen Welt wird nicht - im cartesischen Sinne - "funktionalistisch" sein, sondern in vielschichtigen Geweben strukturiert, ganzheitlich, offen und poetisch...
Das Menschenbild in der Architektur
Für wen werden die gebauten Dinge geschaffen? Wer versteht ihren Ausdruck, ihr Angebot? Was sagen sie über ihre Macher aus, über die Architekten, die Bauherren, die Zeitgenossen? Solchen und ähnlichen Fragen können wir uns annähern, wenn wir Architektur als eine (nicht verbale) Sprache behandeln, die durch drei Arten von Funktionen charakterisiert ist:
1. "expressive" Funktionen, durch die die sprachliche Form als Ausdruck ihres Senders /Machers /Entwerfers etc. erscheint,
2. "appellative" Funktionen, in denen deutlich wird, was Architektur von ihren Adressaten will, wozu sie ihre möglichen Empfänger /Bewohner etc. herausfordert und
3. "symbolische" Funktionen, das sind die "Mitteilungen", die die gebaute Sprache über etwas macht.
Kurz: Funktionalität als Ausdruck, als Aufforderungs-Charakter und als symbolische Qualität.
1. Architektur als Selbstdarstellung des Menschen (expressive Funktion)
Zunächst sind es die Werkzeugspuren des Machers (des Handwerkers /der Maschine) im Material, die Auskunft über Menschen geben. Das Aussehen der Werkstücke läßt sich weitgehend als Spur der Herstellungsvorgänge lesen. Darin erscheinen Eigentümlichkeiten eines Menschen, einer Werkstatt, einer Zeit, einer kulturellen Landschaft, so daß Kenner nach diesen Merkmalen gebaute Dinge datieren und bestimmten geographischen und geistigen Landschaften zuordnen können. Schon die euklidischen Grundstrukturen, die viele Werkzeuge hinterlassen (das Gerade-, Rechtwinklig- und Rund-Sein), machen deutliche Aussagen über den Menschen, der dahinter steht und seine Dinge von der Natur abhebt.
Durch bestimmte figurative Grundzüge (Fuß, Kopf, Achse, vorne /hinten (Gesicht /Rücken), rechts /links) erscheint uns die gebaute Gestalt als Gegenbild im Leibraum, als "Außenleib". Architektur ist eins der Projekte des Menschen, zwischen Selbst und Natur gesetzt.
Aber nicht nur urbildhaft erscheint der Mensch im Gebauten, sondern auf vielerlei Weise typisch und individuell. Der intimste Ausdruck ist die Wohnung, das eigene Zimmer als persönliches Museum voller Relikte privater Erinnerung. Architektur mag das Leben rahmen oder sogar in gebauten Formen spiegeln: Die Spur eines Menschen als einzelner sowie seine Spur als sozialer und kultureller Typus. Schließlich dient Architektur als Bühne der gesellschaftlichen Begegnungen, man findet seine Verhältnisse in ihr dargestellt, verhöhnt, verraten, verzeichnet.. Der öffentliche Raum (Straße und Platz) konnte jahrhundertelang die Gesellschaft abbilden, die ihn benutzt. Im Zeitalter der demokratischen Zersplitterung fällt es uns nun schwer, den Abbild-Charakter zu akzeptieren, wenngleich einzelne Züge überdeutliche Sprache sprechen, z.B. die monumentale Darstellung der Verwaltungen und Institutionen (Stellvertretung der ohnmächtigen einzelnen), die Demonstration der "verwalteten Angst" in Versicherungspalästen, die Strangulation durch das Leistungsdenken, dargestellt durch die gewaltigen Verkehrssysteme, die unsere Städte umgarnen usw....
Die Stadt gerät zum Abdruck der Profitgesellschaft und ihrer Kontrollformen durch affirmative Wiederholung ihrer Typen, ihrer besitzanzeigenden Bilder, durch schlagende Reklame etc.. Die Poesie des Individuellen tritt völlig zurück. Wir stellen die Unfähigkeit unserer Gesellschaft fest, innerhalb der Öffentlichkeit Spiel-Räume zu installieren für das "offene" Leben der Machtlosen, der Kinder, der Alten, der Liebespaare, der Künstler... Das Selbstverständnis unserer Gesellschaft wäre zurechzurücken und mit ihr ihre Selbstdarstellung in den Mitteln der Architektur!
2. Der Aufforderungscharakter der gebauten Dinge (appellative Funktion)
Wie erscheint in der Architektur das Menschenbild ihrer Nutzer, d.h. ihrer Adressaten? Wie werden Menschen durch Gebautes zu Handlungen, zu Aktivitäten herausgefordert? Welcher Gebrauch /welche Empfindung wird gefördert und begünstigt, welche dagegen erschwert und behindert? Architektur fordert einerseits ihre Adressaten zu körperlicher Bewegung heraus (d.h. zur Benutzung), andererseits regt sie Stimmungen an, Gefühle, Erinnerungen und Träume (d.h. Vorstellungen). Was die Bewegungen angeht, so können sie zweckhaft sein, dann zielen sie auf praktischen Gebrauch, auf Nützlichkeit, oder sie können frei sein, spielerisch, so die triebhaften, lustvollen Abenteuer-Bewegungen, die bei Kindern so stark, bei Erwachsenen immer schwächer ausgeprägt sind. Wird die Architektur (vor allem der Grundriß) vorwiegend für Zweckbewegungen eingerichtet, so bekommt sie "Geräte-Charakter" und wird damit eindeutig nutzbar, im engen Sinne funktionalistisch. Sie fordert mit einem bestimmten Detail-Repertoire bestimmte typische Abläufe heraus, die zu fest gefügten Riten des Wohnens, des Arbeitens, der Freizeit führen. Wenn die Architektur solche Abläufe festschreibt, schrumpft die sinnliche Erlebniswelt auf wenige Daten. Der Sinn des Nutzers für Ökonomie der Kräfte läßt ihn mehr und mehr auf den Wechsel der sinnlichen Reize verzichten zugunsten der erwarteten Muster. Probieren ist dann unnötig, die Abläufe geraten ins Automatische... Solche "Zweck-Architkeutr" verdeckt unendlich viele Erlebnismöglichkeiten. Was wir brauchen, um frei, offen und spielerisch zu leben sind die starken, schmerzhaften und sanften, überraschenden Eindrücke des Raumes, begleitet von Lust und Unlust, sinnliche Gefühle, Stimmungen, solche, die in Erinnerung bleiben und solche, auf die wir uns freuen, "helle" Wahrnehmung, die unsere Phantasie immer wieder neu bewegt.
Zum "Aufforderungscharakter" der Architektur gehört durchaus die Technik der Erzeugung von Gefühlen. Bestimmte sinnliche Reize - ein Gemisch aus Überraschung und befriedigter Erwartung - müssen mit kalkulierbaren Wertvorstellungen "aufgeladen" werden. So kann kunstvoll Gebautes erreichen, daß der Zauber der Naturstimmungen (Tages- und Jahreszeiten z.B.) unser Inneres zu spiegeln scheint. Der Rückzug des Selbst ins Intime, Gemütliche der Wohnung wird mit anderen Mitteln stimuliert als etwa die pathetische Distanz gebauter Institutionen. Bei Reisen regt uns das Bedrohliche, Desorientierende der Fremde an wie ein andermal das Süße, Zauberhafte des wiedergefundenen Idylls, das Bild einer traumhaften Innenwelt der Wünsche. Wie sehr wünschen wir uns, in das Projekt, das wir ausbreiten (Architektur) hineinzugehen - auf der Suche nach unserem Inneren im Umraum!
3. Architektur als Symbol (die Darstellungsfunktion der architektonischen Sprache)
Auch das gehört zur Funktionalität: "Aussagen" der Architektur über kulturelle Zusammenhänge, über Denk-Modelle, geschichtliche Verweise etc., mit einem Wort: Aussagen über ETWAS. "Thema" der architektonischen Sprache kann in diesem Sinne ein philosophisches, z.B. ein kosmologisches Modell sein (Dogon-Haus, Stadtgrundriß Peking, Boullées Nowton-Epitaph u.a.m.). auch technisches Gerät wurde zum gebauten Motiv (Archigram-Projekte, Centre Pompidou u.a.m.), bildliche Hinweise von philosophischem Niveau, aber auch solche im Alltagszusammenhang (Steiners Heizzentrale in Dornach, Buden-Architektur vom Sunset-Strip Los Angeles). Es gibt auch Architektur-Aussagen, die nur mit Wissen über Buchstaben, Zahlen, Schriftzüge und dergl. zu entschlüsseln sind. Außerdem bezieht sich Architektur auch immer auf ihre eigene Geschichte, indem sie offen oder versteckt Vorbilder, historische Floskeln, typische Details, Gebäudeformen, Stadtstrukturen etc. benutzt. Wenn diese Absicht offensichtlich, lehrhaft oder vordringlich wird, geraten die Aussagen zu "Sprachspielen" für Eingeweihte, zum esoterischen Spaß für Gebildete, zum "l'art pour l'art-Erffekt. Vieles aus dem Bereich der hochliterarischen Post-Moderne hat diese Eigenart, wobei zitathaft Anspielungen häufig nur bildhaft und zweidimensional und nicht eigentlich durch Raum-Gestaltung vermittelt werden. In diesem Zusammenhang steht wohl auch die gezeichnete (nicht gebaute) Architektur, eine Kunstwelt sui generis - und ihre Kritik.
Umgekehrt wirkt besonders auf "Laien" die populäre, bis ins Kitschige getriebene Anspielung auf Fremdes, auf Reiseerlebnisse (Schwarzwalddächer im Rheinland, Italienisches im Norden etc.), "Exotik" des Alltags, die auf den Traum des kleinen Mannes spekuliert.
Mannigfach erscheint also das Menschenbild im Gebauten: Als erinnernd rückwärts Gemeintes (Architektur als Ausdruck-von), als intentional vorwärts Gemeintes (Architektur als Ausdruck-zu) sowie als Träger einer symbolischen Aussage (Architektur als Zeichen-für). Architektur redet auf diese dreifache Weise vom Menschen.