Wolfgang Meisenheimer

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"Spiel - Traum - Phantasie - Irrationale Momente der Architektur"

Dokumentation eines Seminars zu Fragen der Architektur-Theorie veranstaltet im Lehrgebiet Grundlagen des Entwerfens (Prof.Dr.-Ing. Wolfgang Meisenheimer) durch den Fachbereich Architektur der Fachhochschule Düsseldorf im SS 1979 in Kronenburg (Eifel)

Inhalt:

Wolfgang MeisenheimerEinführung in den Themenkreis
Egelbert KremserBauten, Bauen und Entwürfe - vorläufige Bilanz eines Ausbruchversuchs
Ilka KüglerBühnenräume - Architekturräume
Hans-Peter OpheidenPhantastsiche Architektur - gemalt, gezeichnet, nicht gebaut

Wolf Gerischer und
Hans Günter Hofmann

Selbstverwirklichung durch Bauen - von der Architektur zur Archiskulptur
Wolfgang MeisenheimerArchitektur als magisches Objekt
Jürgen PahlJerusalem - Sfozinda - Las Vegas - Die Wirklichkeit des Unwirklichen
Bernward v. ChamierBauformen und Wörter
Gerhard FehlArtis sola domina necessitas - bauliche versus soziale Phantasie in der Architektur

Referenten- Verzeichnis:

Dipl.-Ing. Engelbert Kremser, Architekt, Berlin, Heinrich Wendel, Chef-Bühnenbildner der Deutschen Oper am Rhein, Düsseldorf, Dr. Ilka Kügler, Dramaturgin bei der Deutschen Oper am Rhein, Hans-Peter Opheiden, Dipl.-Ing. Architekt, Dipl.-Ing. Wolf Gerischer, FHD, lehrt "Grundlagen der Baukonstruktion (Innenarchitektur)", Dipl.-Ing. Hans-Günter Hofmann, FHD, lehrt "Freihandzeichnen", Prof.-Dipl.-Ing. Jürgen Pahl, FHD, lehrt "Stadt- und Regionalplanung", "Einführung in die städtebauliche Planung" und "Stadtgeschichte", Prof. Dipl.-Ing. Bernward v. Chamier, FHD, lehrt "Entwerfen" und "Typologie und Darstellung der Bauformen", Prof. Dr.-Ing. Gerhard Fehl, F.H. Aachen, lehrt "Planungstheorie".

Einführung in den Themenkreis:

Charles Jencks erklärt in seinem Buch "Die Sprache der Postmodernen Architektur" (dva 1978, S. 9) mit sarkastischem Unterton, der Tod der modernen Architektur sei zu datieren auf den 15. Juli 1972, 15,32 Uhr: Sprengung der damals neuerbauten und preisgekrönten Wohnanlage Pruitt-Igoe in St. Louis/Missouri. Trotz dieses Fanals sind immer wieder neue Pruitt-Igoes um uns herum entstanden: das Märkische Viertel, Düsseldorf-Garath, Tausende von Kubikmetern umbauter Raum. Zu wenig davon wurde gesprengt.

Um welche "moderne Architektur" geht es da? Welche Charakteristik ist da gemeint? Welcher Typus modernen Bauens hat sich da so tödlich ausgebreitet und muß zurückgenommen werden? Die gemeinte unzureichende "Moderne" scheint mir charakterisiert durch ihre strukturale Schrumpfung auf drei Eigenschaften, die zugleich die Arbeitsmaximen ihrer Hersteller sind:

  1. Praktische Brauchbarkeit: Reine Gebrauchszwecke sind primär. Nur was praktisch ist, ist erwünscht, ist erlaubt. Wer Unbrauchbares macht oder bloß theoretisiert, ist verdächtig, lenkt ab. Praktiker sind gegen Utopien, gegen Schmuck, gegen Kunst, gegen alles Unzweckmäßige, Rätselhafte, Phantastische, Verspielte.

  2. Technische Perfektion: Mit möglichst geringen Mitteln hohe Produktionsleistungen durchsetzen! Die Mittel und Methoden der industrialisierten Wirtschaft einsetzen! Die Forderungen an Architektur wie Forderungen an technisches Gebrauchsgut auffassen: Geräte, Werkzeuge, Fahrzeuge usw..

  3. Wirtschaftlichkeit: Architektur ist eine Ware. Billig herstellen, teuer verkaufen! Der Billigstbietende bekommt den Auftrag zu produzieren, der Meistbietende bekommt den Auftrag zu konsumieren. Zum Konsum überreden, zum Konsum zwingen! Bringt die Ware keinen Gewinn, läßt man sie fallen.

Alle drei Charakteristika (das Praktische /das Technische /das Ökonomische) sind durch eine bestimmte Form des rationalen Denkens bestimmt. Herstellung und Verwendung dieser Architektur geschieht nach System, nach beschreibbaren Kategorien. Ihre Ergebnisse werden honoriert, wenn und sofern sie vorhersehbar, abschätzbar, kalkulierbar sind. Zu ihrer Beherrschung sind exakte Begriffe, Methoden und Wertmaßstäbe entwickelt worden. Die Bestandteile dieser Architektur sind geschrumpft auf eine bestimmte Art von rationalem Vokabular, auf Elemente, Regeln und Systeme, mit deren Hilfe vor allem praktische, technische und ökonomische Strukturen beherrschbar sind. Alles andere aber - Spiel, Traum, Phantasie: die irrationalen Momente der Architektur - wird als Zutat oder gar als überflüssig betrachtet. Auf welchem Grund ruht solche Art von Rationalität? Und: Ist solche Rationalität dem Gegenstand Architektur angemessen?

Nach der Auffassung der logischen Philosophie (Carnap, Russel) ist menschliche Rationalität, das Vermögen, artikuliert zu denken, gebunden an Sprache. Nach dieser Ansicht funktioniert alles Denken auf der Basis von Symbolen (Wörtern), die nach bestimmten Regeln (Syntax) zu Systemen (Sätzen, Perioden usw.) logisch zusammengeschlossen werden. Solche Sprachlogik baut auf festen Bedeutungen der Symbole (Wörterbüchern) auf und arbeitet mit exakt nachvollziebaren logischen Schlüssen von fast unbegrenzter Kombinationsfähigkeit. Die Sprache der Wissenschaften, der Mathematik, der Technik, der Wirtschaft sind von dieser Art Rationalität. Charakteristisch für die Leistungsfähigkeit des verbalen Symbolismus ist, daß nur solche Sachverhalte übertragbar, mitteilbar sind, die sich durch eine lineare Kette von Ideen ausdrücken lassen. Denn Worte sind nacheinander angeordnet.

Die gesamte Ausdruckwelt außerhalb der verbalen Logik ist für diese Philosophie nicht rationaler Art, vielmehr Emotion, Wunsch, Gefühl, Traum, irrationales Gehabe und Getue, also individueller "Ausdruck", aber nicht "Denken".

Die Philosophin Susanne Langer stellt in ihrem Buch "Philosophie auf neuem Wege" (S. Fischer Verl. 1942) dieser Auffassung von Rationalität eine andere entgegen. Wenn Symbole die Instrumente des Denkens sind, wenn Denken "symbolische Transformation" ist, so muß man - nach ihrer Darstellung - um die Komplexität menschlicher Rationalität hinreichend zu erfassen, zwei Arten von Symbolen unterscheiden und entsprechend zwei Arten von Rationalität: diskursive und nicht diskursive (= präsentative). Die klassischen Beispiele für diskursive Symbolik sind die verbalen Sprachen mit ihren nacheinander-Anordnungen von Worten. Daneben aber gibt es eine Fülle von Systemen präsentativer Symbolik, die räumlich nebeneinander geordnet und bildhaft aufgebaut sind. Beim präsentativen Denken handelt es sich um ein nichtdiskursives, intuitiv anschauendes Denken, das einfallartig mit Vorstellungsbildern arbeitet, das weder präzise formulierbare "Elemente" noch eine abgeschlossene "Syntax" kennt, dennoch aber rational ist, d.h. Symbole findet, verarbeitet und überträgt. Ein Elementarbeispiel für präsentative Symbolik ist das Gestalt-Sehen beim Warhnehmungsakt, wie ihn die Gestaltpsychologen (Wertheimer, Koffka, Köhler) erforscht haben, z.B. das Sehen euklidischer Raumstrukturen, das man als einen ständig idealisierenden, konstruierenden Akt beschreiben kann, den das Auge zwanghaft und unbewußt ausführt. Das Auge scheint bei seinen Operationen zu denken. "Alle Sensitivität (Auge /Ohr) trägt den Stempel des Geistigen." (Langer)

Es gibt nicht nur die (diskursive) Rationalität des "sprechenden" Denkens, sondern auch die (präsentative) Rationalität des "vorstellenden" Denkens. Das Gestalt-Sehen ist NICHT im Bereich des Irrationalen angesiedelt, das Gestalt-Machen ist NICHT bloß individueller Ausdruck! Präsentative Symbolik hat vielmehr ihre eigenen Gesetzmäßigkeiten, ihre eigene Rationalität! Es gibt eine Logik des Auges. Es gibt eigenartige Ordnungen im Bereich der Träume, der Magie, des Rituals, der Kunst.

In diesem Sinne möchte ich den Rahmen des Seminars formulieren. Es geht nicht eigentlich um Abgrenzung des sogenannten "Irrationalen" im Bereich der Architektur. Es geht vielmehr um den Versuch, die Eigenart der nichtdiskursiven Symbolik zu bestimmen, die Bauwerke darstellen können.

  • Welche Typen symbolischer Transformation setzen wir beim Planen /beim Bauen ein?
  • Wann spielen diskursive Symbole, wann spielen präsentative, bildhafte Symbole beim Bauen eine Rolle?
  • Wie realisiert man Symbol-Vorstellungen (Systeme geordneter Phantasien), welche Mittel stehen zur Verfügung für ihre Präsentation, für ihre Darstellung?
  • Wie macht man die "Sprachen" präsentativer Symbole verständlich? Für wen sind sie faßbar oder nicht faßbar?

Der "Tod der modernen Architektur" (Jencks) ist wohl der Tod der Leistungsarchitektur, die praktisch, technisch und ökonomisch durchkontrolliert sein will - und dabei die tiefen Bereiche der Bilder, der Vorstellungen, der Träume nicht berührt. Diskursive Rationalität im Bereich der praktischen Funktionen, der Technik und der Ökonomie ist aber durchaus nicht unnötig - das wäre ein Mißverständnis! neben diese Art der Logik müssen jedoch Phantsie und Vorstellungsbilder treten, die ihre eigene Logik in sich tragen und durch Worte nicht ersetzbar sind.

Wir müssen die Vielfalt der bildhaften Symbole wieder entdecken:

  • die Geste, die Gebärde eines Gebäudes,
  • die Macht der magischen Formen,
  • ihren rituellen Gebrauch in Grundsituationen des Lebens,
  • Architektur als Fetisch, als Gegenstand der angebetet, angeträumt wird,
  • den künstlerischen Wert eines Gebäudes als Plastik, als Bild, als räumliche Zauberqualität eigener Art,
  • ein Bauwerk als Metapher, als Ersatzobjekt für etwas anderes, vielleicht Vergangenes, vielleicht weit Entferntes,
  • Architektur als Spiel, als Mittel der Selbstverwirklichung,
  • Architektur als mythischen Gegenstand, als Materialisierung einer Idee ("Kosmos", "Leben").

Die Sehnsucht nach Fixation des Gefühls, nach Stimmung, nach Ausdruck wächst. Eine Architektur wird gesucht, die den Menschen erlaubt, sich etwas vorzustellen: Architektur mit symbolischer Gebärde - über bloß Praktisches und Technisches hinaus. Die Architektur der Ausdrucksbilder, der bestürzenden Metaphern. Dafür sorgen, daß Bauwerke "ein Gesicht haben"! Nicht nur auf diskursive Ordnungen Wert legen, sondern darüber hinaus physiognomische Qualitäten erzeugen: Ausdruck!