Wolfgang Meisenheimer

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Architektur als Versuch, als Wagnis, als Experiment

Dokumentation eines Seminars zu Fragen der Architektur-Theorie, veranstaltet im Lehrgebiet Grundlagen des Entwerfens (Prof. Dr.-Ing. Wolfgang Meisenheimer) durch den Fachbereich Architektur der FH Düsseldorf, im SS 1997, Schloß Gnadenthal.

Inhalt:

Wolfgang MeisenheimerEinführung in den Themenkreis
Hans Peter ThurnUmgang mit dem Risiko. Kultur im Widerspruch von Aufbau und Zerstörung
Niklaus FritschiArchitektur als Weltmodell
Mathias SchmitzEine kleine Geschichte der Erfindungen. Der Mensch macht seine Welt
Paul KuffSimulationen, die das Wagnis verringern
Joachim ProchottaWas ist ein "Experiment" in der Physik?
Hans Holländer Architekturphantasien der Malerei
Christoph IngenhovenNichts ist gewiß! Jeder Entwurf ein Wagnis, jedes Bauwerk ein Experiment
Gerhard Auer"Das ECHO". Das gebaute Manifest des Mathias Goeritz in Mexiko City
Bob MartensArchitektur als Bürgerschreck. Wiener Späße


Referenten- Verzeichnis:

Prof. Hans Peter Thurn, Soziologe, Kunstakademie Düsseldorf, Prof. Dipl.-Ing. Niklaus Fritschi, FHD, lehrt "Darstellungstechniken", "Baukonstruktion" (Innenarchitektur) und "Entwerfen", Mathias Schmitz, Dipl.-Ing. Architekt, Prof. Dipl.-Ing. Paul Kuff, FHD, lehrt "Tragwerkslehre" und "Entwerfen", Prof. Dr. Joachim Prochotta, Physiker, FHD, Prof. Dr. Hans Holländer, Kunsthistoriker, T.H. Aachen, Dipl.-Ing. Chrostoph Ingenhoven, Architekt, Düsseldorf, Prof. Dipl.-Ing. Gerhard Auer, Architekt, Architekturtheoretiker, Braunschweig, Prof. Dr. Bob Martens, T.U. Wien (Raumlabor).


Einführung in den Themenkreis


Architektur als Versuch?! Bauten sind doch "Dinge"! Allerdings, - aber schon beim ersten Erlebnis /beim einfachsten Verständnis ist das Gebaute zugleich ein Ding und eine "Unternehmung auf etwas hin", eine experimentelle Anordnung, ein Versuch, auf die Zukunft gerichtet. In den gebauten Dingen sind offene Fragen enthalten, in diesem Sinne sind sie faktische UND virtuelle Wirklichkeit. Einen Versuch macht nur der, der etwas wissen will, etwas ändern will, der eine Frage hat, der die Gegenwart auf mögliche Zukunft hin einstellt. Ehe wir uns der "Architektur als Experiment" zuwenden müssen wir

  • das Leben, die Kunst, die Technik als Experimentierfelder verstehen lernen und
  • die Methoden großer Experimentatoren befragen.

Das Staunen gilt (besonders seit Plato und Aristoteles als Vor-Versuch der anschauenden Erkenntnis, der geistigen Annäherung an die Welt. Beim Staunen erfährt der Wahr-Nehmende eine Öffnung auf die Zukunft hin, er beginnt mit einer unartikulierten Frage an seine Wahrnehmungsgegenstände, an die Welt-als-Gegenüber. Staunen ist also ein erwartungsvolles Tun und kein Zustand, es ist ein Vorgang ohne Erfüllung, ein Such-Vorgang. Es entwickelt die Ahnung einer Ordnungsfigur im Diffusen. Ahnung ist eine "gestalterische" Anstrengung im Vorfeld der Erkenntnis.

Die Sinnesorgane (zum Hören, Sehen, Tasten etc.) können als elementare Versuchsanordnungen verstanden werden. Die "Arbeit" der Sinne ist keineswegs nur Reiz-Aufnahme, sondern ständig und sofort auch der Versuch, Ordnung herzustellen, Struktur zu entdecken. Das Wahrnehmen ist also eine probeweise Verstehens-Handlung. So tasten z.B. spezielle Zellen der Retina den Sehraum auf Euklidisches, Geschlossenes, Prägnantes etc. ab. Die immer neue Bestätigung solcher Ordnungen ist nötig zu unserer Orientierung in der Welt. Wir vermuten bei den Wahrnehmungsvorgängen ständig Ordnungen. Wir setzen bestimmte Akte, Bewegungen usw. ein, um diese Erwartungen zu bestätigen oder zu widerlegen. Durch kleine Handlungsschritte werden die Wahrnehmungsbilder geprüft, das "brauchbare" Material wird auf diese Weise aus der Fülle der gebotenen Reize herausgefiltert. Es sind also praktische Zweifels-Vorgänge (Kopfwackeln, Körperbewegung, Augenvibration etc.), auf denen unser Interesse an den Dingen im Erlebnisraum beruht. Das Erkennen von Dingen im Wahrnehmungsraum hängt von den ständigen "Versuchen" der Organe ab.

Erkenntnis, die geistige Annäherung an die Welt, beruht auf dem Vergleich von Wahrnehmungsinhalten und Vorstellungsinhalten (Gedächtnisphaenomenen, Wünschen, Ideen, Projektionen etc.). Bei Erkenntnisvorgängen werden Wahrnehmungen, Ideen, Intentionen, Erfahrungen etc. probeweise kombiniert, sortiert und verglichen. Ernst Bloch (Das Prinzip Hoffnung) zeigt auf, wie der Mensch - als Mängelwesen - ständig neue Welt-Inhalte erzeugt. Zur Beseitigung der Mängel erzeugen wir (probeweise) neue Werkzeuge und geistige Utopien.... "Wir leben mehr für die Zukunft als aus der Vergangenheit".
 

Definitorisches:

Eine HYPOTHESE ist eine zunächst unbewiesene Annahme mit dem Ziel, sie durch Beweise zum gesicherten Bestand unseres Wissens zu machen. Eine THEORIE ist eine wissenschaftliche Darstellung /Lehre, von Erfahrungssätzen ausgehend. Sie ist die systematische Darstellung von zusammenhängenden Merkmalen etc., ein "Ideen-Modell". Ein MODELL ist eine theoretische Darstellung, die Ähnlichkeit mit einer vorhandenen oder einer zu erfindenden Wirklichheit hat. Ein ENTWURF ist die Vorwegnahme der Kom-Position von Merkmalen einer zu erfindenden Wirklichkeit. Ein EXPERIMENT ist eine Versuchsanordnung, auf bestimmte Fragen ausgerichtet im Hinblick auf eine Erwartung, einen Vorstellungsinhalt, meist zum Zweck der Veränderung /Verbesserung der vorgefundenen Wirklichkeit.
 

Historisches:

Leonardo da Vinci (*1452), einer der größten erfinderischen Menschen. Das Gesamtwerk ist als vielschichtiges Experiment zu verstehen. Alle naturwissenschaftlichen, technischen, künstlerischen und philosophischen Arbeiten (auch die architektonischen) sind Beiträge zur Variation der Methoden und Werkzeuge.

Ernst Bloch (*1895) stellt die Kulturgeschichte als utopischen Raum dar, d.h. die Notwendigkeit der geistigen Utopien als systematische Versuche der Herstellung von Wirklichkeit.

Karl Popper (*1902) fordert als Wissenschafttheoretiker eine stringente "Trial-and-error-Theorie". Ständig sei die Produktion von "Welt 3" (Erfindungen) erforderlich, um Erfahrung von "Welt 1" (Dingen) und "Welt 2" (Gefühlen, Vorstellungen) zu korrigieren. Versuch und Fehlerbeseitigung sind bei ihm die Basis der Erkenntnis.

 

Viele bedeutende technische Systeme können als "Versuche zur Verständigung" interpretiert werden, insbesondere die elektronischen Systeme (Telefon, Telefax etc.), deren Informationsübertragung von Sender zu Empfänger ständig verbessert wird. Die Grundlagen der Zeichentheorie und ihrer technischen Interpretation haben besonders die Kybernetiker Charles Sanders Peirce (*1867), Norbert Wiener (*1894) und Charles William Morris (1938, Grundlagen der Zeichentheorie) beigetragen.

Selbst soziale, politische, religiöse und oekonomische Systeme können als "Versuche zum Aufbau der Macht" verstanden werden: Wer beherrscht wen?

Nach diesem Blick in die geistige Landschaft ringsum nun aber Einführendes zur Architektur als Experiment, als Test, als Versuch!

Zunächst: Wir können über Experimente zur Architektur sprechen, d.h. über Modelle, Zeichnungen, typologische Untersuchungen, Versuche im Maßstab 1:1 usw.. Wir können aber auch das Gebaute selbst als Versuch besprechen, als Test im Hinblick auf aesthetische, funktionale und technische "Erwartungen".

  • Die aesthetische Struktur des Gebauten.
    Die sinnlichen Phaenomene der Architektur sind der Anstoß zur Empfindung, sie sollen als das Erregende Atmosphäre erzeugen und ausdrucksvoll sein. Zum elementar Sinnlichen tritt die Aussage der normativen Aesthetik des Gebauten: die Forderung nach besonderer "Schönheit".

    Aesthetische Phaenomene können systematisch varriiert, getestet und bewertet werden - schon bevor das Bauwerk existiert. Die entwerferische Arbeit ist im wesentlichen die experimentelle Vorwegnahme der gewünschten Wirkungen.

  • Die technische Struktur des Gebauten.
    Bei jedem Bauvorgang handelt es sich um die probeweise Kombinatorik von Materialien und technischen Details nach physikalisch-technischen Regeln. Auch hier ist die Variation, Auswahl und Bewertung der Möglichkeiten schon vor der Realisierung möglich und üblich.

  • Die funktionale Struktur des Gebauten

    d.h. Nützlichkeit, Eignung usw.. Die Brauchbarkeit eines Gebäudes wird sich - wie sein symbolischer Wert - erst recht nach seiner Errichtung zeigen. Aber viele Einzelfragen (besonders solche zum praktischen Nutzen) lassen sich durch typologische Voruntersuchungen klären.

Grundsätzlich gilt, daß jedes Bauwerk - so gut oder schlecht es gelungen sein mag - ein offener Versuch ist. Das wirkliche Ergebnis ist vorher unbekannt, soviele Fragen der Entwerfer auch immer in seinen "Vorversuchen" ansprechen und untersuchen mag. Der grundsätzlich experimentelle Charakter der Architektur ist allerdings keineswegs ein Malheur, eine Schwäche des "Werkes". Ihr experimenteller Zug ist im besonderen Sinne menschen-würdig. Das utopische, zukunft-offene Moment ist ein notwendiger Teil unserer Gegenwart und der eigentliche Sinn unserer Planung. Es ist unumgänglich für die "Erzeugung der Zukunft".

Das Neue

Dokumentation eines Seminars zu Fragen der Architektur-Theorie, veranstaltet im Lehrgebiet Grundlagen des Entwerfens (Prof. Dr.-Ing. Wolfgang Meisenheimer) durch den Fachbereich Architektur der FH Düsseldorf, im SS 1998, Kloster Rolduc. 

Inhalt:             

Wolfgang MeisenheimerEinführung in den Themenkreis
Joseph NeulenGeburt, Wachstum. DAS NEUE im biologischen Verständnis
Felix WalterWeltentstehungsmythen
Marlene ZlonickyDas Neue als Paradox
Thomas BleyDer letzte Schrei. Immer wieder NEUES im Design
Walfried PohlDer Deutsche Werkbund. Sein Innovationspotential im gesellschaftlichen Kontext
Karsten K. KrebsAVANTGARDE. Variationen zum Begriff
Georg Schiller Was ist ein Meisterwerk? Gertrude Stein und die Emergenz des Neuen in der Kunst der Moderne
Hanns FriedrichsNEUES in der Mode? Die Mode ist DAS NEUE!
Thomas RempenNeu ist immer gut

Referentenverzeichnis:

Prof. Dr. Neulen, Klinikum RWTH Aachen, Frauenklinik, Felix Walter, Dipl.-Ing. Architekt, Dipl.-Ing. Marlene Zlonicky, Stadtplanerin, Essen, Prof. Dipl.Des. Thomas Bley, FH Köln, FB Design, Dr. Walfried Pohl, Kunsthistoriker, Bonn, Prof. Dipl.-Ing. Karsten K. Krebs, Innenarchitekt, FHD, lehrt "Grundlagen des Entwerfens" (Innenarchitektur), Dr. Georg Schiller, Sprachwissenschaftler, Uni Düsseldorf, Thomas Rempen, Werbe-Manager, Düsseldorf.        

 

Einführung in den Themenkreis

Ernst Bloch hat die Eroberung des Neuen und die Erwartung der Zukunft zum Mittelpunkt seiner Philosophie gemacht: "Der Mensch ist auf die Zukunft hin angelegt, die noch garnicht feststeht..... Erwartung, Hoffnung, Intention auf noch ungewordene Möglichkeit: das ist nicht nur der Grundzug des menschlichen Bewußtseins, sondern, konkret gerichtet und erfaßt, eine Grundbestimmung innerhalb der objektiven Wirklichkeit insgesamt."Zur Illustration der Entwicklungsgeschichte des Denkens über das Neue erlaube ich mir, vier "philosophische Szenen" zu skizzieren, die die Stadien dieser Entwicklung - auf Europa beschränkt - keineswegs hinreichend darstellen, aber in wesentlichen Punkten andeuten sollen. 

 

1. Szene:

Das Erlebnis des NEUEN in der magisch-mythischen Welt vor Homer.

Der junge griechische Philosoph Christos Axelos, der um 1959 bei Heidegger in Freiburg studierte, hat mir beim Wandern auf dem Pelepponnes klargemacht, daß die dunkle Welt der archaischen Europäer auch heute noch in griechischen Sprachformeln (z.B. in der Landschaft um Olympia) aufgehoben ist. Dort sagt man z.B. zur Apfelernte aus uraltem Vorstellungsgut heraus: "Es ist Zeit, das Obst von den Bäumen zu retten." Der ummauerte Bereich des Hauses und der Stadt ist der Innenraum des Bekannten, der kultivierten Welt, drumherum lagert das Neue als das zu Fürchtende, Schreckliche, der wilde Schlund der Natur. Vordergrund der Zivilisation ist das Vertraute, der mächtige Welt-Hintergrund aber, der (unerwartet) das Neue bringt - das Schicksal -, ist nicht beherrschbar, Menschen und Götter sind ihm ausgeliefert. Das Neue ist also etwas zu Fürchtendes. Es ist, als hole der schöpferische Mensch seine Werke - zu denen auch die Götter gehören - aus einer grauen Zone der Natur-Angst herüber in die beherrschte Stadtlandschaft. Das Neue gehört für das magisch-mythische Denken zur schrecklichen Aussenwelt, zum Schicksalsanteil des Dunklen dort drüben. Es ist etwas, das man - wenn es hereinbricht - aushalten und überstehen muß. 

 

2. Szene:

17./18. Jahrhundert. - Die "helle" Welt der technischen und der moralisch-philosophischen Euphorie

Francis Bacon setzt schon im 16. Jht. auf die imaginatio, das schöpferische Grundvermögen des Menschen, das besonders bei Künstlern, Wissenschaftlern und Ingenieuren ausgeprägt sei. Ingenium kommt von gignere, hervorbringen, erzeugen. Gottfried Wilhelm Leibnitz geht im späten 17. Jht. gar davon aus, die Wissensbildung sei vollständig kalkulierbar durch die ars combinatoria, die Kombination zweier Künste, nämlich die ars judicandi (zur Unterscheidung, ob ein Satz wahr oder falsch ist) und die ars inveniendi (zur Erfindung aller möglichen wahren Sätze). Die Findung/ Erfindung/ Entdeckung des Neuen wird zur eigentlichen und ersten Menschheitsaufgabe, der Erfinder /Entdecker das höchste gesellschaftliche Leitbild. Die Welt selbst wird verstanden als etwas zu Erfindendes, sie ist eine monumentale Maschine, ein künstliches, im Prinzip beherrschbares Wunder.Dabei ist erstaunlich, daß die Welt als Kunstwerk nach dem Leitbild der Natur gedacht wird: die (bessere) Natur wird von Ingenieur-Erfindern von der Art Newtons neu geschaffen und systematisch erforscht bzw. entdeckt. Der Ingenieur ist ein göttlicher Komponist, der Schöpfer-Aufträge erfüllt. Die Traumobjekte dieser Erfinder-Ära sind selbstverständlich die Maschinen und künstlichen Wunderdinge, die anstelle des Menschen handeln, unbestechlich, zuverlässig und geschickt, so z.B. musizierende Roboter. Der Mensch demonstriert seine Verfügungsgewalt über die Materie, er ist mächtig über das Universum, das vorgestellt wird als ein gewaltiges, zweifellos beherrschbares Uhrwerk.Als mythische Schlüsselszene zu dieser euphorischen Herrscher-Ära mag das Bild des Hephaistos gelten, der den Kopf des Zeus spaltet. Der Kopf (!) eines Mannes (!) gebiert die Athene. In diesem Bild wird die erste technische Weltrevolution als eine Kopfgeburt erkannt. 

 

3. Szene:

19./20. Jahrhundert. - Im bürgerlichen Zeitalter wird das Neue zum käuflichen Gut.

Im gesellschaftlichen Rollenspiel - durch Kapital und Arbeit bestimmt - nimmt das Neue die Position eines Alibi ein. In der total oekonomisierten Welt des Konsum ist seine Macht eingeschränkt. Das Neue (durch Kunst, Wissenschaft und Erholung angeboten) dient zur Entspannung (nach der Arbeit), zur Belohnung (anstelle von Geld), als Bildungsinsel für Privilegierte und als exotische Ware für jedermann. So wird die Kunst in eine therapeutisch verstandene Randlage gedrängt: das Ganzandere ist erholsam - ähnlich wie die Betrachtung von Sammlungen, Museen etc. an Wochenenden.In ganz ähnlicher Funktion sind die "Schaustücke" der Wissenschaft, etwa Zoologische und Botanische Gärten, wie auch Volkshochschule, Wissens-TV etc. zu verstehen, erst recht das Angebot des Neuen im Urlaub, bei Reisen, in den unendlichen Medienangeboten oder auch in den Ersatzwelten der Drogen.Arthur Rimbaud formuliert schon 1871 die Dienstleister-Rolle der Künstler mit einem Aufschrei: "Der Künstler muß sich zum Monstrum machen, um ins Unbekannte /Neue vorstoßen zu können." Die Frankfurter Schule hat in den 50-er Jahren versucht, den Sinn der Außenseiter-Rolle der Kunst in einer totalen Konsumgesellschaft zu formulieren. Horkheimer spricht von der (verständlichen) Sehnsucht nach dem Ganz-anderen. Markuse befürchtet, das Leistungsprinzip pervertiere das Realitätsprinzip, es müsse durch spielerisch-freie Möglichkeiten (z.B. der Kunst) gerettet werden. Adorno sieht die Bedeutung der Ästhetik als Ausbruch aus der gesellschaftlichen Verkrampfung. In diesem Zusammenhang ist auch der Versuch von Cage /Cunningham /Rauschenberg (in den 50-er Jahren), den Zufall als Kunstprinzip einzuführen. Jeder innovative Trick war recht, die Suppe der "Redundanz" (d.h. der Verhärtung des Lebens durch kontrollierte Arbeit) zu verdünnen. Der Protest gegen den Schwund des Neuen als Kulturgut und den Mißbrauch der Reste dieses Kulturgutes als gesellschaftliches Alibi wurde in den 60-er Jahren formuliert, ausgelöst durch die ohnmächtigen Proteste der Studenten in Paris, Berlin etc. 

 

4. Szene: Heute.

Das Verschwinden des Neuen in der "Wirklichkeits-Simulation" der elektronischen Medien.

Die Vervielfältigung der technischen und der Erlebnis-Ebenen ("Wirklichkeiten") läßt das Neue unkenntlich werden. Bei TV-Darstellungen ist nicht mehr auszumachen, was daran neu, was alt ist. Die Qualität des Neuen ist nicht mehr identifizierbar, selbst Live-Sendungen sind nicht frei von dem Verdacht, äußerst geschickt manipulierte Collagen von Verschnitt zu sein. Neu sind weder die technischen Elemente der Herstellung noch die inhaltlichen Komponenten, neu ist (möglicherweise) nur noch die Art der elektronischen Darstellung. Nicht mehr das Neue der Welt als Erkenntnisgegenstand ist das eigentliche Faszinosum (weder im Sinne der schrecklichen Abwendung noch in dem der euphorischen Zuwendung), sondern seine neuartige Präsentation. Virtualität, d.h. Möglichkeitsdenken ist überall. Das Neue ist in diesem Sinne kein existentielles Thema mehr, sondern ein mediales. Es "verschwindet" in den immer neuen Vorgängen der Darstellung.Robert Musil formulierte 1930: "Der Möglichkeitssinn des Erfinders ist die Fähigkeit, alles was ebensogut sein könnte zu denken und das was ist, nicht wichtiger zu nehmen als das was nicht ist."Besonders durch die Einführung von Collage-Techniken in die moderne Malerei - durch Picasso, Braque, Schwitters usw. - , wurde der spielerische Umgang mit Fragmenten, die unter Einbeziehung des Betrachters immer neue und mit der Haltung des Betrachters häufig wechselnde Ganzheiten bilden, zu einer bevorzugten künstlerischen Arbeitsform. Neben der gewählten Variante werden im Kopf des Betrachters mehrere andere angesprochen, die auf der Grundlage des gleichen Materials sehrwohl auch möglich wären. So wird der semantische Reichtum einer Präsentation gewaltig gesteigert, und der lustvolle Umgang mit dem Möglichen verspricht dem Betrachter mehr als ein einmaliger, neuer Inhalt. Deshalb sind es im Fernsehzeitalter die Moderatoren und nicht mehr die Schauspieler, die dem Publikum besonders nah sind. Sie verkünden zwar keine Botschaft mehr wie früher einmal Erfinder, Wissenschaftler oder Künstler, sie sind inhaltlich für nichts verantwortlich. Aber sie repräsentieren das wechselnde Spiel der Aufmerksamkeit, d.h. sie stellen das Medium dar, - möglicherweise neuartig.