Wolfgang Meisenheimer

ad 8

"Architektur: Bildende Kunst"

Dokumentation eines Seminars zu Fragen der Architekturtheorie veranastaltet im Lehrgebiet Grundlagen des Entwerfens (Prof. Dr.-Ing. Wolfgang Meisenheimer) durch den Fachbereich Architektur der Fachhochschule Düsseldorf im SS 1981

Inhalt:

Wolfgang MeisenheimerEinführung in den Themenkreis
Renate UlrichPlastik und Malerei des 20. Jahrhundert - Berührungspunkte mit der Architektur
Wulf HerzogenrathDer Vorkurs von Josef Albers am Bauhaus
Jürgen Pahl Stadt als Kunstwerk
Günter Zamp Kelp (Haus-Rucker-Co)Werkbericht
Anesti ZirzirisArchitektur als Motiv in der Malerei - Die Darstellung des architektonischen Raumes auf der gemalten Bildfläche
Wolfgang MeisenheimerDinge - Orte - Figuren. Einige persönliche Erfahrungen mit Plastik und Architektur
Heinz MackLichtarchitektur - Farbarchitektur
Friedrich WagnerKörperraum-Studien zwischen Plastik und Architektur

 Referenten- Verzeichnis:Dr. Wulf Herzogenrath, Geschäftsführer des Kölnischen Kunstvereins, Köln, Prof. Heinz Mack, Bildhauer, Mönchengladbach, Prof. Dipl.-Ing. Jürgen Pahl, FHD, lehrt "Städtebau" und "Stadtbaugeschichte", Renate Ulrich, Dipl.-Ing. Architekt, Prof. Dr.-Ing. Friedrich Christoph Wagner, FHD, lehrt "Gestaltungslehre", Dipl.-Ing. Günter Zamp Kelp (Haus-Rucker-Co.), Architekt Düsseldorf, Anesti Zirziris, Dipl.-Ing. Architekt.Einführung in den Themenkreis:Innerhalb dieses weiten und verlockenden Themenrahmens ist dieses Seminar selbstverständlich nur in der Lage, einzelne wenige Fragestellungen zu berühren. Es versucht dennoch, von verschiedenen Seiten her den Unterschied der jeweils eigentümlichen Werkstrukturen von Architektur, Malerei und Plastik zu besprechen und wenigstens einige wesentliche Merkmale, Grenzen und Berührungspunkte aufzuzeigen.Zur Einführung zunächst der Versuch einer ersten vergleichenden Charakterisierung gebauter, gemalter und plastisch geformter Dinge, der von der Unterscheidung ihrer materialen und technischen Grundlagen, ihrer Wahrnehmungsbedingungen sowie der jeweils interdierten räumlichen Strukturen und Wirkungen ausgeht. Diese vorläufigen definitorischen Versuche beziehen sich zunächst auf konventionelle, klassiche Beispiele gebauter, gemalter und plastischer Werke: etwa auf Gebäude, auf Tafelbilder oder Wandbilder bzw. auf Skulpturen im herkömmlichen Sinne - und zunächst nicht auf künstlerische Produkte, deren Werk- oder Ding-Charakter zweifelhaft ist, etwa Aktionen, Konzept-Kunst und dergleichen.

 

Architektur

Die Baustoffe (Erde, Stein, Holz, Beton, Stahl, Glas, Textil etc.) sind als anfaßbare, körperlich gegebene Elemente ("Dinge") vorgegeben, die zu materialen Systemen zusammengefügt, nebeneinander, übereinander, hintereinander gesetzt, gemischt und verteilt d.h. räumlich angeordnet werden. Die kleineren und größeren Ganzheiten (Bauteile, Häuser, Stadtteile etc.) sind - wie die Elemente selbst - körperlich greifbar, d.h. sie sind als "Werkleiber" (R. Schwarz) realisiert. Zu den Erlebnisbedingungen gebauter Dinge gehören Aktivitäten mehrerer Sinne. Die Augen müssen sehen - zum einen als "virtuelles Tasten" verstanden (die Wahrnehmung von topologischen Raummerkmalen wie Orten, Abständen, Grenzen, Gebieten usw. sowie das Spüren von Oberflächentexturen), zum anderen als Tiefensehen (Nähe und Ferne durch das zweiäugige Sehen und durch die Wahrnehmung der sekundären Tiefenraum-Merkmale wie etwa den Wechsel der Fluchtlinien, der Überschneidungen und Schatten, der Helligkeiten und Farbperspektive usw.). Dazu kommen Hörraum und Tastraum als wesentliche Wahrnehmungsraum-Strukturen. Dabei ist offenbar ein entscheidendes Chrakteristikum gebauter Dinge, daß sie uns umgeben: der Innenraum ist ein architektonische "Urphaenomen"! (Vergl. "ad 4": Innenraum - ein architektonisches Urphaenomen). Das Architektur-Erlebnis ist aber nicht als "reine räumliche Perzeption" zu verstehen, es ist vielmehr gleichzeitig ein Interesse-Handeln, ein Umraum-Brauchen, funktionale Nutzung . Architekturraum ist also handlungsbezogen und in diesem Sinne eine konkrete Darstellung von Lebensraum, ob nun die Nutzungen praktisch möglich sind oder im geistigen Bereich angedeutet werden ("symbolische Nutzung").

Die Raum-Darstellung in der Architektur zielt also auf Innenraum. Innenraum kann dabei auf zweierlei Weise charakterisiert werden. Er kann als "Zwischenraum" zwischen Umfassungselementen (Mauern, Stützen usw.) geschaffen werden, wobei diese Elemente einzelnen ablesbar bleiben. Er kann aber auch "Höhlencharakter" bekommen: dann schließen sich die Umfassungselemente mehr oder weniger ringsum zu einer kontinuierlichen Hülle, wobei Wände in Wände, Wände in Decken, Wände in Böden übergehen. Jedes Bauwerk nähert sich in seiner Raumbildung einem dieser beiden Grundtypen.

Auf der Bedeutungsebene haben die gebauten Dinge möglicherweise drei verschiedene Zweckbindungen. Bauwerke sollen erstens fast immer praktische Aufgaben erfüllen, sie sind Hülle und Schutz, also Nutzobjekte und stellen als solche eine Hilfe zum Handeln und zum Leben dar. Soweit sind sie "Zweckbauten" im engeren Sinne. Gebautes kann aber auch als Bühne der Selbstdarstellung benutzt und verstanden werden, als Ort der Identifikation, als "Zuhause", als Begegnungsraum, als "Spielfeld des Lebens" und bei hohen Aufgabenstellungen sogar als Symbolbühne zur Darstellung von Ideen (philosophischen, religiösen usw.). Drittens kann Gebautes zum Kunstwerk werden, zum aestehtischen Gegenstand eigener Art: Architektur als Darstellung von Architektur.

 

Malerei

Die stofflichen Bedingungen für Malerei sind Flächen als Malgründe: Leinwände, Papier, Holzplatten, Wandflächen etc. Darauf werden mehr oder weniger flächige Materialien kollagiert: Tusche, Farbpigment, Papiere, bei neueren Arbeiten auch Folien, Fotos und dergleichen. Am Wahrnehmungsvorgang sind nur die Augen beteiligt. Man muß sich bei der Betrachtung nicht weiter körperlich bewegen. Das Objekt, die visuelle "Szene" bleibt gegenüber. Sie umgibt uns nicht wie der Raum der Architektur, der nur mit Körperbewegungen erfahren werden kann. Wir gebrauchen die gemalte Realität nicht im Sinne der praktischen Zwecke. Ihr Erlebnis ist eine "rein ästhetische Nutzung". Malerei schafft einen eigengesetzlichen Darstellungsraum, den man "virtuellen Raum" nennen kann. Die Philosophin Susanne Langer spricht (Feeling and Form, Routledge 8 Kegan Paul, London 1953) von "virtueller Szene". Malerei gibt immer die Möglichkeit des Erlebnisses von Tiefe, sie erzeugt die visuelle Illusion von vorn und hinten in einer Fläche. Das wird bei allen Perspektiv-Techniken (Linien-, Farb- und Licht-Perspektiven) besonders deutlich. Aber auch bei völlig perspektivelosen Flächendarstellungen zielt die Intention des Malers auf Überwindung der Fläche durch Tiefen-Illusion, sei es Körperdarstellung durch Licht und Schatten, sei es ein "Kulissen-Effekt" durch Überschneidung von Silhouetten, durch Größenstaffelung oder andere Mittel der Flächen-Irritierung. In jedem Fall entsteht in der Fläche ein Vorstellungsraum eigener Tiefe. Das trifft sogar auf solche Malereien zu, die beim ersten Anblick völlig flächig erscheinen.

 

Plastik

Stoffliches Material (Stein, Ton, Holz, Papier, Draht usw.) wird von Plastikern zu Formen verarbeitet, die körperhaft greifbar vor uns stehen. Sie umgeben uns jedoch nicht wie die Umfassungen der architektonischen Räume. Man muß sich allerdings - anders als beim Betrachten eines Bildes - körperlich hin- und herbewegen, um Plastiken (auch Reliefs) hinreichend zu erfassen. Das "Erfassen" ist nur selten ein Fassen, meistens vielmehr ein Sehen, dieses Sehen allerdings vorwiegend als "Tasten in der Ferne". Die Spannung des Volumens wird in der Schwellung der Körper-Oberflächen und in der Bewegung seiner Texturen begriffen. Die ausdruckhafte Spannung der Körperformen hebt die Plastik ab von der Qualität dreidimensionaler Körper im physikalischen Verständnis. Plastik ist Darstellung von "visionärem" Körperraum. Sie besetzt physikalaische Volumen mit Ideen, Vorstellungen, Projetionen, Gefühlen, Erinnerungen, Ahnungen - d.h. mit Ausdrucksqualitäten. In diesem Sinne spricht Susanne Langer bei Plastik von "kinetischem Volumen".

An diese ersten definitorischen Unterscheidungen möchte ich den Versuch anschließen, die geschichtliche Entwicklung des Verhältnisses von Architektur, Malerei und Plastik zu skizzieren. Dieser Versuch geht von der Frage aus, welche Raumstrukturen in verschiedenen historischen Perioden bevorzugt dargestellt wurden. Dabei werden weder alle bedeutenden Entwicklungsphasen noch alle Schauplätze stilistischer Neuerungen erfaßt. Die Skizze beschränkt sich vielmehr auf die grobe Beschreibung des historische Wechsels in der Auffassung von Innenraum. Dabei soll deutlich werden, wie das Verhältnis der drei "Raum-Darstellungstechniken" zueinander (Architektur : Malerei : Plastik) sich geändert hat.

In vorgeschichtlicher Zeit erscheinen mythische Bauwerke häufig als einfache Hügel oder Aufrichtungen, als plastische Male, die Orte von magischer Bedeutung markieren, manchmal sogar als Systeme solcher Objekte, die gewisse Abstände voneinander haben und in deren Wirkungsfeld man sich wie zwischen "Dingen" bewegen kann. Der archtektonische Raum ist hier vorwiegend Zwischenraum zwischen isolierten körperhaften Gegenständen, deren Nähe zu dem deutlich ist, was später "Plastik" heißt. Beispiele sind etwa die Menhire der Bretagne oder der magische Kreis von Stonehenge.

Andererseits sind vielerlei steinzeitliche Höhlenanlagen gefunden worden, die sowohl zu praktischen als auch zu symbolischen Zwecken benutzt wurden: Wohnhöhlen, Schutzhöhlen, Votivhöhlen, Bestattungshöhlen usw. ... Die Wände sind häufig bemalt. Beobachtetes und Gewünschtes, Ist-Szenen und Als-ob-Szenen, Darstellungen einer inneren Welt, in die man körperlich eintreten konnte. Der materiale Raum erscheint illusionistisch vertieft. Die Nähe zu dem wird deutlich, was später "Malerei" heißt. Auch in der Architektur das alten Ägypten werden noch beide Prinzipien im Umgang mit räumlichen Strukturen nebeneinander deutlich: einerseits das skulpturale Aufrichten und Aufschichten monumentaler Massen - einzelner Körper wie Obeliske oder Pyramiden, oder auch ganzer Reihen und "Wälder" davon wie Sphinxalleen und Säulenhallen - andererseits das Ausschachten und Bemalen von Höhlen - vor allem als Grabanlagen. Einmal werden die gebauten Dinge wie Ansammlungen gewaltiger Plastiken aufgefaßt (etwa die Tempelanlagen von Karnak und Luxor), ein andermal wie Hohlräume der Erde, eingemantelt in traumhafte Flächendarstellungen (etwa die Gräber im Tal der Könige).

Dann aber, mit der Formulierung der griechischen Tempelarchitektur, scheint eine dieser Tendenzen zu überwiegen: die zur Isolierung der Körperelemente. Innenraum ist bei diesen Bauten wesentlich Zwischenraum zwischen Säulen, also plastischen Volumen, deren Gestalt-Ähnlichkeit mit aufrecht stehenden menschlichen Leibern auffällt. Das Bauen und Bemalen von Höhlen ist zwar nicht ganz aufgegeben, aber völlig untergeordnet.

Entgegengesetzt entwickeln sich allmählich die Tendenzen der Raumdarstellung im alten Rom. Gewölbebau, Kuppelbau, Schalenbau zeigen das neue Interesse an geschlossenen Baumassen, an massiven Hüllen, deren innere Oberflächen häufig auf kostbare Weise mit Malereien, Mosaiken und anderen Flächendarstellungen geschmückt werden. Zwar werden die griechischen Skelettbau-Techniken weiterpraktiziert, aber mehr und mehr wendet sich das Interesse vom Innenraum als Zwischenraum zum Innenraum als Höhle.

So wechseln im Laufe der Architekturgeschichte die Tendenzen: einmal spielt das "Prinzip Zwischenraum" die größere Rolle, ein andermal das "Prinzip Höhle". Herrscht das erstere vor, so werden die Bauelemente selbst als plastische Körper gesehen, und der Sinn für freistehende Plastik wächst. Herrscht das zweite vor, so umhüllen die Bauteile mit großen Mantelflächen das Innere, und der Sinn für Flächenornamentik und Malerei wächst. Selbstverständlich gibt es beide Extreme nicht in reiner Form, vielmehr deutliche Gestaltungstendenzen in beide Richtungen.

Die Renaissance greift das besondere Interesse der Griechen an der Isolierung plastischer Elemente auf. Zugleich kann man aber eine gleichsam malerische Verarbeitung dieser Elemente (der Säulen, der Pfeiler, der Giebelscheiben usw.) auf Flächen beobachten. Sie erscheinen als Halbsäulen, als Pfeilervorlagen usw. in "Fassadenbildern", d.h. in mehr oder weniger flächigen Architekturdarstellungen auf den äußeren und inneren Oberflächen der Baukörper.

Die Architektur des Barock nimmt mit ihren vielfachen Gewölben, Kuppelschalen dagegen die Erfahrung Roms wieder auf, indem die Darstellung einer geschlossenen Innenwelt alles andere überwiegt. Zugleich erleben die Techniken der Flächenillusionierung eine unglaubliche Blüte. Malereien verzaubern die Hüllen dieser künstlichen Höhlen und erzeugen phantastische Tiefenwirkungen. Die Besessenheit vom Höhlenprinzip geht so weit, daß es auch im Stadtraum unter offenem Himmel noch gilt und ringsum geschlossene Mantelformen erzeugt.

Wenn man nun die Entwicklungslinien der modernen Architketur betrachtet, so lassen sich beide Gestaltungs-Tendenzen nebeneinander deutlich verfolgen. So hat vor allem Mies van der Rohe "Objekt-Architekturen" erzeugt, indem er Bauteile wie Stützen, Mauerscheiben, Deckenplatten etc. als isolierte plastische Elemente voneinander trennt. Innenraum ist bei ihm vor allem Zwischenraum zwischen diesen Elementen. Rietvelds und Neutras Arbeiten zeigen verwandte Konzeptionen. Auch neuere "kristallinische" Architekturen (z.B. die Kirche in Mauer bei Wien von Fritz Wotruba) sind ähnlich gedacht: Die wesentlichen Teile des Bauwerks werden körperhaft isoliert und "von außen" gesehen - selbst wenn der Betrachter sich im Inneren befindet.

Ebenso konsequent haben z.B. Hugo Häring, Hermann Finsterlin und Hans Scharoun ihren Bauten den Charakter von Hülle und Mantel gegeben und so die Tendenz zum "Innenraum als Höhle" verfolgt. Neue Entwerfer haben diese alte Sehnsucht aufgenommen, z.B. Le Corbusier mit Ronchamp oder später die Tao Design Group, Giorgini oder Gottfried Böhm mit ihren Höhlen- und Molluskenentwürfen. Kann man sagen, daß auch hier das Interesse für illusionierende Wirkungen vor allem der inneren Oberflächen, für Glasfenster, Mosaiken und Malereien, für Spiegel und traumhafte Beleuchtungen wieder gewachsen sind? Jedenfalls ist bei einigen Bauten Le Corbusiers und etwa bei Michael Graves die konzeptuelle Nähe der Entwürfe zur modernen Malerei deutlich: bei Le Corbusier zur Malerei von Ozenfant, bei Graves zur Malerei von Juan Gris. Vielleicht gehört in diesen Zusammenhang auch die Beobachtung, daß beim Beginn der rationalistischen Bewegung der neuesten Zeit zunächst zauberhafte und disziplinierte Graphiken und Architekturbilder bekannt wurden. Bei den Präsentationen der 1. Architektur-Biennale in Venedig 1980 herrschten flächige Mitteilungen bei weitem vor. Viele Entwürfe beschränkten sich geradezu auf Aussagen über Fassaden.

So erscheinen heute wieder beide Tendenzen der Raumbildung in der Architektur nebeneinander. Und beide zeigen ein eigenes und anderes Verhältnis von Architektur zu Malerei bzw. von Architektur zu Plastik.