Wolfgang Meisenheimer

1

Die Gesten der Orte.

Orte als mimetische Positionen.

Die Gesten der Orte. Einführung.

 

Die einfachen Gesten: Urakte.
hiersein. jetzt hiersein.
hierher! dorthin!
Orte festlegen. Steine errichten.
Orte, die den Himmel tragen.
Quellorte, Ursprungsorte, die Orte von Geburt und Tod.
Orte der Verkündigung.
Orte der Erinnerung.
Denkmale. Ehrenmale. Grabmale.

Die Orte im Haus.
Orte des privaten Lebens.
Der Tisch.

Die Orte der Stadt.
Die Brennpunkte der Stadt. Orte des öffentlichen Lebens.
Orientierungspunkte. Merkzeichen. Orte der Aufmerksamkeit.
Historische, museale, touristische Orte.
Temporäre Orte.

Kein Ort: nirgends.
Von der Aufhebung des Ortes.
Fahrende, schwimmende, fliegende Architektur.
Irgendwo zuhause außerhalb des Raumes.

 

 

2

Die Gesten der Wege.

Die gesten der Weg. Einführung.

 

Anfang und Ende. Schwellenphänomene.
Der Anfang. Der allererste Anfang.
Das Ende. Der Abschluß.
Das Vorspiel. Die Ankündigung.
Vorräume. Das Vor- und Nachspiel in der Architektur.
Schwellen.
    

 
Schwellenphänomene.          

 

Gebaute Schwellen.

Der gerade Weg.
Gehen. Architektur für den Fuß, für das Gehen.
Fahrradfahren. Schlittschuhlaufen.
Fahren. Gleiten. Rollen.
Architektur für das Fahren, Gleiten, Rollen.
Der Pfeil.
    

 
Die Richtung der Zeit. Die Nicht-Umkehrbarkeit der Wege.          

 

zwischen ... hindurch! auf ... zu! an ... entlang! von ... weg! über ... hinweg!
hinein! hinaus!

Krümmung. Wendung. Kurve.
Leibraum als Bewegungsraum.
nach rechts! nach links!
rechts! links! rechts herum! links herum!
um etwas herum! am Rand entlang!
Abbiegung. Verzweigung. Gabelung. Kreuzung.

Steigung. Gefälle. Auf und ab.
aufwärts! abwärts!
hinaufsteigen!
ans Licht: nach oben! zu den Göttern: nach oben!
Aufstieg als Pathos-Motiv.
springen!
Ikarus-Motive der Architektur.
hinuntergehen! Abstieg. Absturz.

Verzögerung. Beschleunigung.

Verzögerung.
Beschleunigung.
Spannen. Entspannen. Rhythmusphänomene.
Der gebaute Rhythmus.

Sisyphus-Phänomene. Der unendliche Weg.
Spirale. Wirbel. Strudel.
Schleife. Falte. Knoten.
Technische Unendlichkeit. Maschinen-Ewigkeit.
Der ewig neue Anfang.
Seelenflüge. Flugträume.
    

 
            
      

3

Stille Szenen. Ruheräume.

Das Verschwinden der Zeit

aus dem Raum.
 
Stille Zenen. Einführung.

 

Räume für den Rückzug ins Private.
Das Bett. Die Kuschelecke.
Räume für die Liebe. Räume für die Einsamkeit.
Räume für das intime Alleinsein.
Sauna. Räume für intime Geselligkeit.
Das Heim. Die Hütte. Das Wochenendhaus.
Die Sitzecke. Der stille Winkel.
Die Präsentationsnische.
Der intime Hof.
Die Grotte. Die Muschel. Die Mulde.
Die Falte. Die Buchtung. Die Schlucht.

Verwahren und Erhalten. Räume der Erinnerung.
Der Schrank. Die Truhe. Das Schatzkästchen.
Der Speicher. Der Keller. Das Lager. Die Scheune.
Der Schrein. Das Grab. Der Kenotaph.
Das Museum. Pathos-Szenen der Erinnerung.

Meditative Szenen.
Die Nacht. Urszene der Meditation.
Das Meer. Die Wüste. Das Himmelszelt. Die Weite der Natur.
Ins Innere der Erde. Höhlen.
Die Klöster. Die Kirchen. Große Gehäuse der Meditation.
Die Leere als Seelenlandschaft.
Erste Annäherung an das Erhabene.
Der Kreis, das Quadrat als meditative Grundmuster.
Mandalaformen.
Das Idyll. Räume für Träume.
Die Einrahmung der Innenwelten. Räume als Rahmen.
Hortus Conclusus: der Garten als Innenwelt.

Tote Räume. Räume der Ohnmacht.
Der Kerker. Das Verlies.
Trümmer, Asche: der verlorene Raum.
    
            
      

 

4

Erregte Szenen.

Unruheräume.

Die Auflösung des Raumes

in der Zeit.

erregte Szenen. Einführung.

 

Die Irritation der Form. Das Aufbrechen des Raumes.
Störfiguren in der Natur.
Störfiguren in der Technik.
Das Finden der Balance. Das Stören der Balance.
Gestaltirritationen. Der Fehler in einem regelmäßigen Muster.
Die Erregung der Haut als erotischer Ausdruck.
Textur. Die Haut das Materials.
Verkleidung. Verpackung. Dekor.

Räume für den flüchtigen Gebrauch.

Minutenarchitektur.
Bauten auf Zeit. Temporäre Architektur.
Die Trivialkultur der Straße. Schnellimbiss-Welt.
Die Szene um den Tisch herum ...

Der szenische Raum.

 

Tanz: Das Öffnen des Raumes durch gestische Bewegung.

 

Tänzerische Momente des gebauten Raumes.
Pulsation. Rhythmusphänomene.
Körpergestik als Gestaltungsmotiv.
Gerüst, Gerät, Maschine als „architektonische Bilder“.
Augenillusionen, perspektivische Spiele.
Mehrdeutigkeit als Stimulans: Nicht-Eindeutigkeit. Nicht-Simultaneität.
Das Prinzip Zufall.
Theaterräume. Bühnen. Kulissen. Szenische Bilder.

Rausch. Der verrückte Raum.

 

Action. action! Die Ewigkeit des Flüchtigen.
    
          
Die Lösung des Ich aus dem Raume.
Labyrinthe. Irrgärten.
Knicken. Kippen. Brechen.
Spiegel. Anamorphosen. Illusionistische Verwirrung.
Die Aufhebung der Orte. Das Verschwinden des Raumes.
Der Mythos Fliegen! Abheben! Auflösen! Ikarusmotive.
Das Rasen der Maschine als Ausdrucksmotiv.
Architektur, Fahrzeug, Flugzeug.
Die Potenzierung der sinnlichen Reize. Die Grenze zum Wahnsinn.   

 

Skizze zu einer Katastrophen-Theorie. 

 

Apokalypse. Zersplittern, Zerbrechen als Schauspiel.
Verbrecherische Aufhebung des Raumes.
Explosion. Implosion. Heilige Raserei.
Ekstase. Der Sprung aus dem Raum in die Zeit.     
            

 

    

EINLEITUNG

Baukörper und gebaute Räume wirken suggestiv anregend oder auch langweilig, herausfordernd, beruhigend usw. auf uns, besonders dadurch, daß sie mit unserem Körpergefühl korrespondieren, d.h. mit unserer Vorstellung vom Leib, seiner Gestalt und seinen möglichen Bewegungen. Die Architektur wird spontan als Gegen-Welt und Um-Welt des Körpers erlebt. Die Ordnung des Leibes - sein Rhythmus, seine figurative Gestalt und insbesondere das Repertoire seiner Ausdrucksbewegungen - bildet den dynamischen Hintergrund für das Erlebnis der Architektur. Das Wahrnehmen und Benutzen der gebauten Dinge, das Genießen, Erleiden, Messen, das Darstellen, Machen und Verändern, alle diese Vorgänge haben den Charakter von Handlungen. Die Gestalt- und Bewegungsstrukturen des Körpers treten in Verbindung mit denen der gebauten Räume. Erkenntnisvorgänge ganz allgemein, selbst einfachste Wahrnehmungen, sind aktuale Ereignisse, sie führen durch Handlungen zu einem Ergebnis, - auch die Erkenntnis der Architektur.

In diesem Sinne ist jede Architektur szenisch, - nicht nur die Bühnenarchitektur. Die gebauten Dinge lassen uns agieren, auch wenn wir als Betrachter an einem Ort verharren, selbst dann, wenn wir die Betrachtung auf einen einzigen Anblick ( auch z.B. ein Foto ) beschränken: unser Körper setzt sich in Bezug zu diesen Objekten, er mißt sie, verteilt sie, er dringt in sie ein.

Wahrnehmende Körperbewegung ist die Ur-Erkenntnis, spontan, komplex, gelenkt vom vitalen Interesse. Die Augen sind ebenso beteiligt wie der Schweresinn, die Tastempfindung ebenso wie das Bewegungsinteresse unserer Glieder: der Körper erzeugt mit seinem synchronen Instrumentarium eine raumzeitliche „Frage-Situation”. Seine Rolle ist in der Szenerie der Objekte sofort mitgemeint, ohne ihn ist Architektur weder erlebbar noch erkennbar.

Das Architektur-Körper-Verhältnis ist nicht abbildhaft-statisch, vielmehr fluktuierend, tastend, von Suchbewegungen abhängig. Beim Erleben, beim Wahrnehmen von gebauten Dingen versucht der Körper, seine bevorzugten und vertrauten Bewegungs-strukturen einzusetzen. Ein guter Entwerfer versucht, im architektonischen Projekt diese Erlebnismöglichkeiten des Körpers zu berücksichtigen.
In der Tür ist das Gehen vorweggenommen und erkennbar, im Fenster das Hinausblicken, - ob diese Möglichkeit nun in physische Wirklichkeit umgesetzt wird oder nicht. In diesem Sinne versteht die amerikanische Philosophin Susanne K. Langer (Feeling and Form) Architekturraum als "virtuellen Lebensraum". Ein Leben-der-Möglichkeit-nach, das sich im Gebauten andeutet, ist für sie der Inbegriff des architektonischen Ausdrucks. Das Gebaute spricht etwas Vorhandenes aus und deutet zugleich etwas Zukünftiges an. Es enthält in sich Bedeutungsqualitäten, die rückwärts verweisen: z.B. gibt es Auskunft über archaische topoi sowie über die Bedingungen seiner Entstehungszeit, über Bauherren, Architekten und die Umstände seiner Geschichte. Es enthält andererseits Bedeutungsspuren, die vorwärts verweisen ins Mögliche, noch nicht Geschehene hinein. Da der Körper "in Bewegungen denkt", da er seine Erkenntnis niemals starr übernimmt, sondern immer in eingeübten "Suchgesten", halte ich es für reizvoll und zugleich lehrreich, die Architektur nach gestischen Qualitäten zu befragen, d.h. nach den Gestaltqualitäten, die mit Ausdrucks-Bewegungen des menschlichen Körpers korrespondieren. Gibt es doch bei der Architektur-Analyse wie beim Architekturentwurf nichts Elementareres als Raum-Bewegung-Zusammenhänge. Alle anderen Aspekte sind vergleichsweise abstrakt und sekundär: Maße, Proportionen, Formfragen, Materialkombinationen, Licht, Tragwerk, Stilmerkmale usw.

Was nun diese Sammlung und ihre Systematik betrifft, so bleibe ich ein wenig skeptisch. Einmal, weil die gemeinten Phänomene ganz und gar ohne Worte auskommen, weil ihre Ordnungen von anderer Art sind als die der Worte. Und auch, weil es neben der elementaren Codierung der Architektur, die wohl alle Menschen in allen Ländern der Erde verstehen, unendlich viele kulturelle Varianten und Ergänzungen gibt, die sich voneinander abheben und sogar widersprechen können. Es ist unmöglich, diese Vielfalt zu erfassen. Auch die Tatsache könnte uns mutlos machen, daß wir das wunderbare Zusammenspiel der Sinne nicht angemessen darstellen können, tun doch die Ohren, der Tastsinn, ja das Riechen mit, wenn der Körper seine Antworten auf die Architektur gibt ...
Dennoch, laßt uns den Versuch machen, eine knappe Sammlung von Raum / Zeit - Phänomenen anzulegen und sie zugleich typologisch zu ordnen. Tretet ein in diese Sammlung wie in ein neues RAUMLABOR!
Ein Schlüsselbegriff zugleich für die Darstellung von Leibesbewegung und korrespondierende Architekturformen ist "das Körperschema". Es handelt sich um das jedem Menschen in seiner Vorstellung gegebene Bild seines eigenen Körpers. Es liegt als figurative Gestalt und als Schema der Ausdrucksbewegungen allen Aktionen seines Leibes zugrunde. Die figurative Gestalt ist durch die Saggitalebene bestimmt, die seinen Körper in zwei Hälften teilt: rechts und links. Vertikal aufgerichtet erhebt sich die Körperachse aus den Fußsohlen. Die Füße stehen unten fest auf der Erde, der Kopf erhebt sich unter dem Himmel.
Die beweglichen Glieder lösen sich aus der Vertikale des Körpers, bilden rechts und links charakteristische Silhouetten. Die Gestalt strahlt vorwiegend nach vorne aus, in geringerem Maße nach hinten, in noch geringerem seitlich. Das Achsenkreuz oben / unten, vorne / hinten, rechts / links ist dem Körpergefühl im Raum vorgegeben, wobei die Pole verschiedene Wertigkeit haben. Als die Mitte des Systems wird die Brust empfunden ( in anderen Kulturlandschaften eher der Bauch ). Das stärkste Element im Körperschema ist wohl das "hier!", und dabei ist wohl vor allem das Oben / unten-Gefühl des Körpers gemeint, mein Bezug zur Erde. Dem folgt die Vorstellung der stehenden Figur, die nach vorn gerichtet vorgestellt wird, insbesondere auch die Vorstellung ihrer Achse, die Extremitäten rechts und links angeordnet.
Den Bewegungen des Körpers im Raum liegen Ordnungsschemata zugrunde, die auch dann im Körperbewußtsein mitgegeben sind, wenn sie nicht physisch ausgeführt werden. Und umgekehrt: die Formen der Architektur fordern den Körper zu bestimmten Haltungen und Bewegungen heraus, ob er sie nun de facto ausführt oder nicht.
Ich gehe davon aus, daß die Architektur primär durch den Bewegungssinn erlebt wird. Architektur ist zunächst ein Pendant des Leibraumes, eine Bühne für die Anordnung des Körpers und das Repertoire seiner bevorzugten Bewegungen.

Die architektonischen Kulissen müssen seit ein paar tausend Jahren so hergestellt werden, daß willkommene Bewegungsfiguren hineinpassen. Architektur gilt dann als besonders wirkungsvoll, wenn sie bestimmte Körperbewegungen nahelegt. Gute Architektur ruft Tanz hervor. Der Anstoß zu Körperbewegungen ist gerade der Gegenstand architektonischer Darstellung. Architektur ist "virtuelle Szenerie". Entwürfe sollten deshalb choreographische Züge haben, d.h. Zeitdimensionen müssen in die Komposition des Raumes einbezogen sein.
Neben dem ausdruckhaften, virtuellen Bewegungscharakter der Architektur ist die faktische, physikalische Bewegung von Bauten von untergeordneter Bedeutung. In den Frühzeiten der industriellen Revolution - zum dritten Mal auch heute wieder - lenkt die Faszination der maschinellen Arbeit zwar die Aufmerksamkeit auf die Möglichkeiten "objektiver" Bewegung des Gebauten, auf das Drehen, Schieben, Flattern, Fliegen der gebauten Dinge, das Abheben von der Erde. Doch es bleibt ein Randphänomen der Architektur, - es sei denn, wir wären bereit, die Welt der Fahrzeuge als Teil der Architektur zu verstehen.

Allzulange ist die Architektur als eine der bildenden Künste betrachtet worden, als wäre der Bild-Charakter einer schönen Fassade, eines Grundrisses, einer Säule das Wesentliche ihrer Struktur. Die Ausbildung der Architekten - besonders bei der ehrwürdigen École-des-Beaux-Arts - hat diese Ansicht verstärkt: die Studenten wurden vor allem zu hervorragenden Zeichnern und Malern erzogen, die von ihren Rom-Reisen zauberhafte Ansichten, Schnitte und Detailzeichnungen mitbrachten. Es ging vor allem um Bild-Illusionismus. Die Reduktion der Architektur auf Bildwirkungen ist aber keineswegs ausgeräumt, wenn das Gebaute dreidimensional verstanden wird, d.h. durch Hinzufügen weiterer Koordinaten zu mehrdimensionalen Bildern. Was dabei völlig verlorenging
( bei der Darstellung in der Lehre und im architekturtheoretischen Verständnis ) ist die Tatsache, daß Architektur als Bühne für Bewegung konzipiert werden muß, d.h. choreographisch. Wir müssen herausfinden, daß es sich beim Bauen und Entwerfen um Konzepte handelt, die nicht eigentlich durch bildhafte Nebeneinander-Ordnungen dargestellt werden können.

Ich versuche, Freunde, den architektonischen Ausdruck vom Gestischen her zu verstehen. Der Zeitcharakter ist das Salz, das die räumlichen Formen würzt, Dimensionen, Proportionen, Figuren und Verteilungen. Darauf möchte ich Eure Aufmerksamkeit lenken, vor allem auf die möglichen Vorgänge im Gebauten, auf die virtuellen, vorgestellten Bewegungen, die den Raum ausdrucksvoll erscheinen lassen. Unser Thema ist der in Zeit aufgelöste Raum, die im Raum ausgebreitete Zeit.