Wolfgang Meisenheimer

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Gestalt in der Architektur

Dokumentation eines Seminars zu Fragen der Architektur-Theorie veranstaltet im Lehrgebiet Grundlagen des Entwerfens (Prof. Dr.-Ing. Wolfgang Meisenheimer) durch den Fachbereich Architektur der Fachhochschule Düsseldorf im WS 1983/84 in Kronenburg /Eifel

Inhalt:

Wolfgang MeisenheimerEinführung in den Themenkreis
Bernd KirchnerPflanzen, Ihre Morphologie und Funktionsweise
Max J. KobbertWahrnehmung als Gestaltungsprozeß - Thesen und Ergebnisse aus der Gestaltpsychologie
Alfred Hoffstadt und
Stefan Dafeld
Zur Geschichte der Gestaltungslehre insbesondere am Bauhaus in Weimar und Dessau
Jutta Sikatzki und Rüdiger Fabry Tanz - die gestaltete menschliche Bewegung (Interpretationen zu einer Reihe tänzerischer Demonstrationen, vorgetragen von Jutta Sikatzki, Simone Junge und Rüdiger Fabry)
Wilfrid JochimsDer Gestaltbegriff in der Musik
Hans Georg LenzenAngleichung, Auflehnung, Verweigerung - drei Verhaltensmuster des Gestus. Ein Beitrag zum Thema "Gestalt"
Thomas DawoIst Gestaltqualität beschreibbar, prüfbar, meßbar?
Manfred SpeidelZeitlichkeit und Architektur-Gestalt in Japan
Wolfgang MeisenheimerArchitektonische Gestalten - nicht nur im Sehraum!

   
Referenten- Verzeichnis:

Prof. Dipl.-Ing. Jürgen Pahl, FHD, lehrt "Staat- und Regionalplanung", "Einführung in die städtebauliche Planung" und "Stadtbaugeschichte", Manuel Ruf, Dipl.-Ing. Architekt, Dipl.-Ing. Inge Boskamp, Leiterin der Wohnberatung Düsseldorf, Architekturkritikerin, Prof. Dipl.-Ing. Wolfgang Pohl, HF Münster, lehrt "Baukonstruktion und Entwerfen", Prof. Dipl.-Ing. Hans G. Hofmann, FHD, lehrt "Freihandzeichnen", Dipl.-Ing. Peter Riemann, LB FHD, lehrt "Grundlagen des Entwerfens", Prof. Dr. Dieter Fuder, FHD, Fb Design, lehrt "Designtheorie", Dr. Arnold Wolff, Dombaumeister Köln, Prof. Dr. Friedrich Christoph Wagner, FHD, lehrt "Grundlagen der Gestaltung", Prof. Dipl.-Ing. Karsten Krebs, FHD, lehrt "Grundlagen des Entwerfens (Innenarchitektur)", Anna Teut, Journalistin, Architekturkritikerin, Mitherausgeber von DAIDALOS, Berlin.

Einführung in den Themenkreis:


Am Anfang dieses Seminars über "Gestalt in der Architektur" steht die Demonstration eines einfachen Gestalt-Phaenomens (eines Quadrates in verschiedenen Darstellungsarten: Umriß linear gezeichnet /Fläche schraffiert /Ecken angedeutet /gestrichelt /in verschiedenen Größen /tiefenräumlich verzerrt /farbig angelegt etc.) sowie der Versuch einer ersten vorläufigen Definition: 1. Gestalten sind Ganzheiten, die gegenüber der Summe ihrer Teile eine andere, neue Qualität haben, 2. Gestalten sind Einheiten, die sich von einer Umgebung /einem Grund als etwas Andersartiges abheben, 3. Gestalten sind transponierbar, d.h. man erkennt sie wieder, auch wenn sie in veränderten Techniken, Materialien, Farben, Größen etc. dargestellt werden.

Das Seminar versucht, die Besonderheiten architektonischer Gestalten und Gestaltung einzukreisen, geht aber von der Demonstration und Definition von Gestaltphaenomenen und -Begriffen verschiedenartiger Wissenschaften und Künsten aus. Es zeigt sich, daß sich in allen Schichten und Bereichen unserer Welt Gestalten als tragende Ordnungen nachweisen lassen: sowohl in der äußeren Welt der physischen, vorgegebenen Dinge ("Welt 1" im Sinne von Karl R. Popper 1) ), als auch in der inneren Welt der bewußten oder unbewußten psychischen Zustände ("Welt 2" im Sinne von Popper) und in der Welt der Darstellungen, der menschlichen Schöpfungen und Erzeugnisse (Poppers "Welt 3"). Gestalt muß als eine grundlegende Struktur unserer ganzen Welt erkannt werden.

Welt 1

Vor Einstein waren die bedeutenden Struktur-Auffassungen vom Aufbau des physikalischen Universums im Wesentlichen reduktionistisch, d.h. sie versuchten Welt-Erklärungen durch Rückführung aller Formen und Vorgänge auf kleinste Teile und deren kausale Verknüpfungen. Bei Descartes erreichte diese atomistische Darstellung des Weltmodells ihren Höhepunkt: die physikalische Welt erschien als Maschine, die aus bestimmten Teilen auf bestimmte Weise zusammengesetzt ist. Newton hat dieses Weltbild großartig ausgebaut, indem er es schlüssig berechenbar machte. Die Überwindung dieses mechanischen Weltmodells durch die moderne Physik wurde u.a. durch Beobachtungen irreversibler Prozesse (Mischung von schwarzem und weißem Sand als einfaches Beispiel) vorbereitet. Die Formulierung der grundsätzlichen Zunahme der Unordnung (der "Entropie") durch den II. Hauptsatz der Thermodynamik berührte ganzheitliche Phaenomene im Bereich der Physik, bei denen Strukturzusammenhänge nicht mehr restlos aus der Eigenart ihrer Komponenten abgeleitet werden konnten. In einem bedeutenden Gedanken-Experiment mit kreiselnden Elektronen hat Niels Bohr nachgewiesen, daß Elektronen-Systeme bei bestimmten Anordnungen Ganzheiten darstellen, deren Eigenarten nicht mehr durch die Merkmale ihrer Bestandteile - der einzelnen Elektronen - und ihrer gegenseitigen kausalen Wirkungen charakterisiert sind. 2) Sie stellen vielmehr Einheiten ("physikalische Gestalten") dar, die im atomistischen Sinne nicht mehr erklärbar sind. Das physikalische Universum wird in der modernen Naturwissenschaft nicht mehr ausschließlich aus seinen Einzelteilen und deren Kausalverknüpfungen heraus gedeutet - wie bei Descartes - vielmehr aus komplexen Wechselbeziehungen innerhalb eines einheitlichen Ganzen. Die letzten Mikrostrukturen des Weltalls sind nicht mehr "Dinge", sondern "einheitliche Verknüpfungen". In der modernen Physik nennt man diesen ganzheitlichen philosophischen Ansatz "bootstrap-Methode".

Eine ähnliche Entwicklung vom reduktionistisch-atomistischen zum ganzheitlich-ökologischen Denken kann man in der Biologie beobachten. Descartes beschrieb den Menschen als aus Geist und Körper zusammengesetzt, wobei der Körper wie eine Uhr aus bestimmten Teilen und deren Relationen konstruiert gedacht war. Die Teile dieser Uhr konnten getrennt voneinander studiert, behandelt, ausgetauscht und repariert werden. Daraus resultierte das medizinisch-diagnostische Ideal von Louis Pasteuer und Robert Koch, das bestimmte Bakterien und Viren als Auslöser bestimmter Krankheiten sah und den Körper insgesamt als Kombination einzelner Wirkungsfaktoren begriff. Obwohl heute mehr als 75 % aller Ärzte in diesem konservativen Sinne "Spezialisten" (d.h. für einzelne Körperteile oder einzelne Behandlungsmethoden zuständig) sind, gewinnen die Einsichten in ganzheitliche Zusammenhänge und wechselseitige Abhängigkeiten von Körper und Geist an Bedeutung. Ganzheitsphaenomene werden nicht nur bei der Beschreibung der Körper-Merkmale von Organismen (Morphologie), sondern auch mehr und mehr bei der Beschreibung ihres Verhaltens betont. Der Übergang zu einer ganzheitlich-ökologischen Weltsicht der Biologie wurde vor allem auch durch Jakob v. Üxkülls Umwelt-Lehre vorbereitet, in der die Charakteristik der Lebewesen gerade in der Gesamtheit des Bezugssystems Individuum /Umwelt gesehen wird, d.h. in raumzeitlichen "Gestalt-Strukturen", die das Leben ordnen.

Welt 2

Die Psychologie spricht von "Gestalt-Qualitäten" sowohl bei der Untersuchung von Wahrnehmungsphaenomenen als auch bei der Beschreibung von Verhaltensformen, Willenshandlungen, Denkverläufen und zwischenmenschlichen Beziehungen. Vor allem durch den Anstoß von Christian v. Ehrenfels 3) untersuchte man etwa seit 1910 Wahrnehmungsgestalten (zunächst im Sehraum und im Hörraum). Ehrenfels selbst unterschied "zeitliche Gestalten" (z.B. Melodien, hier sei die Erfahrungsgrundlage nur zum Teil in der Wahrnehmung gegeben, zum Teil auch in der Erinnerung bzw. der Erwartung) von "unzeitlichen Gestalten" (auf der Grundlage mehrerer Sinnesgebiete). Er definiert Gestalten als Bewußtseinsqualitäten eigener Art: "Unter Gestalt-Qualitäten verstehen wir solche positive Vorstellungsinhalte, welche an das Vorhandensein von Vorstellungskomplexen im Bewußtsein gebunden sind, die ihrerseits aus voneinander trennbaren (d.h. ohne einander vorstellbaren) Elementen bestehen." Seitdem werden psychische Ganzheiten nicht nur in der Wahrnehmung, sondern auch beim Denken allgemein, im Verhalten, bei Willenshandlungen usw. als "Gestaltqualitäten" charakterisiert. Gestalten sind dabei immer Bewußtseinsqualitäten, die etwas anderes sind als die Summe ihrer Teile, die sich in ihrer Eigenart von einem Umfeld abheben und die "mehr oder weniger geschlossene, in sich gegliederte Ganze" sind. Seelisches ist hier nicht aus Elementen zusammengesetzt, vielmehr von primärer Ganzheitlichkeit. Für die Entwicklung der Gestalt-Psychologie hatten besonders die Erklärungen von Max Wertheimer zu Effekten des stroboskopischen Sehens (Scheinbewegungen beim abwechselnden Sichtbarmachen einzelner Schatten) 1911 und Wolfgang Köhlers 4) Schimpansen-Versuche auf Teneriffa (das "einsichtige Erfassen" einer Gesamtsituation oder auch "Gestalt-Denken") 1914-1918 grundlegende Bedeutung. Kurt Lewin weitete die Gestaltpsychologie mit seiner "Feld-Theorie" in sozialpsychologische Bereiche hinein aus. Eine philosophische Gesamtsicht der Gestalttheorien versuchte in neuerer Zeit Karl Bühler 5). Eine Fülle von wahrnehmungspsychologischen Forschungsergebnissen wurde insbesondere von Wolfgang Metzger (Münster) und Edwin Rausch (Frankfurt) veröffentlicht.

Konrad Lorenz macht darauf aufmerksam, daß die individuelle Fähigkeit zur Wahrnehmung komplexer Gestalten von Mensch zu Mensch verschieden ist, sie sei im wesentlichen angeboren und könne kaum gelehrt und durch Lernen verbessert werden (im Gegensatz zu rational-analytischer Begabung). Es scheint aber erwiesen, daß besonders die Fähigkeit des menschlichen Geistes zur Erfindung neuer Qualitäten ("Welt 3": Einfälle, Entwürfe, Erfindungen, Kunstwerke ...) von Vorgängen der Gestalt-Erzeugung - "Gestaltung" im weitesten Sinne - abhängt.

Welt 3

Gestaltphaenomene lassen sich nicht nur in der Welt der vorgegeben physischen Dinge und in der Innen-Welt der bewußten und unbewußten Vorstellungen aufzeigen. Darüber hinaus sind alle menschlichen Werke gestalthaft. So sind z.B. Gedanken-Werke (Gedanken als Denk-Ergebnisse), z.B. das erwähnte Cartesianische Weltmodell, der "Kosmos als Maschine" im Sinne der Grunddefinition gestalthaft. Eine solche "Denkfigur" ist eine Ganzheit, die etwas anderes aussagt als jeder der eingesetzten Begriffe, sie hebt sich mit ihrer besonderen Ordnung von einem Denk-Umfeld ab und sie ist wiedererkennbar auch in verschiedenartigen Darstellungen. Auch sind selbstverständlich alle technischen Geräte (z.B. eine Uhr) und alle Kunstwerke (Bilder, Plastiken, Bauwerke, Musikstücke, Tänze, Gedichte usw.) gestaltet. Es ist aber durchaus auch möglich und üblich, bei gesellschaftlichen Formen von Gestalt und Gestaltung zu sprechen, bei der Bildung von Staaten, von Institutionen, Religionen, Wirtschaftssystemen usw. (z.B. sind die parlamentarische Demokratie, die freie Marktwirtschaft und die katholische Kirche gestaltet). Sogar ganze Kulturkreise (z.B. die westafrikanische "Kulturlandschaft") können als komplexe kollektive Werk-Gestalten verstanden werden. Einer dieser Komplexe von Gestalten aus "Welt 3" ist der engere Gegenstand dieses Seminars, die Architektur. Die Rolle der Gestaltphaenomene in der Architektur Bei einer ersten Beschreibung der Gestaltphaenomene in der Architektur ist es sinnvoll, unzeitliche, zeitliche und komplexe Gestalten entsprechend der Definition von Ehrenfels zu unterscheiden. Unzeitliche Gestalten sind z.B. die zwei- und dreidimensionalen aesthetischen Qualitäten wie das "Bild" einer Fassade, die "Figur" eines Grundrisses, die "Silhouette" oder die "Plastik" der Baumassen etc. ... Unzeitliche Gestalten sind aber auch die geschlossenen technischen Systeme, etwa Tragwerke als "Strukturformen" im Sinne von Curt Siegel 6). Zeitliche Gestalten sind dagegen geschlossene funktionale Strukturen wie etwa das eigene Zimmer oder die Wohnung als "Spielfeld des Lebens", die Nachbarschaft, Heimat usw., d.h. der Lebensraum als ein gestaltetes Funktionensystem. Die sinnvollen Abläufe gehören hier zu den Hauptmerkmalen der raumzeitlichen Struktur.

Als "architektonische Gestalt" im eigentlichen Sinne können solche Qualitäten gebauter Dinge definiert werden, die sinnvoll aufeinander bezogene Systeme aesthetischer, funktionaler und technischer Gestaltmerkmale enthalten. Architektonische Gestalten, die diesen Namen verdienen, sind Komplexe vielschichtiger Erlebnisgegenstände, die (dreifach) geordnete räumliche Einheiten darstellen und sich abheben vom Umraum. In einem typologischen Sinne sind sie transponierbar, d.h. in wesentlichen Zügen wiedererkennbar, auch wenn sie unter anderen praktischen Bedingungen, an anderen Orten usw. reproduziert werden. In anderer Hinsicht sind sie jedoch konkret, unwiederholbar und an einmalige, menschliche, historische und landschaftliche Situationen gebunden. Jedenfalls ist das Schaffen von gestaltetem Raum das entscheidende Architektur-Spezifikum und das wichtigste Entwurfsziel! "Gestaltung" heißt also beim Raumschaffen: aesthetische, funktionale und technische Gestalten sinnvoll aufeinander beziehen. "Architektonische Elemente" sind dabei die kleinsten Werk-Einheiten, die in ihrer dreischichtigen Struktur die Raumgestaltung beeinflussen. Bauwerke, Straßen, Plätze, Städte sind jeweils höhere architektonische Gestalten, die aus Elementen zusammengesetzt sind, aber in ihrer Größenordnung jeweils neue, eigene Qualitäten haben.

"Gestaltungslehre" meint zwar in der Architekten-Ausbildung meist einzelne Bereiche der aesthetischen Syntax (die der wohlproportionierten Flächen, der Farbe, der plastischen Qualitäten etc.); genau genommen muß aber jedes Fach dieser Ausbildung - auch jedes Technik oder Funktion isolierende Fach - Gestaltzusammenhänge suchen und umgekehrt: jede Gestaltungslehre für Architekten muß die Bindung der aesthetischen Gestalten an technische und funktionale Strukturen (wie auch immer verstanden: praktisch, wirtschaftlich, körperlich, seelisch, politisch, philosophisch) einbeziehen. Gerade der Gesamtzusammenhang macht "architektonische Gestaltung" aus.

Ausblick

Wir haben gesehen, daß "Gestalt" eine der bedeutendsten Ordnungsgrundlagen unserer Welt ist. In der Kulturgeschichte Europas scheint sich nach einer langen Phase der Betonung reduktionistischen, rationalistischen Denkens mehr und mehr Ganzheitsdenken durchzusetzen. Das Denken in Gestalten, d.h. in komplexen Ganzheitszusammenhängen wird häufig schon als höherrangig empfunden als das spezialistische, atomistische Denken in Teilen und Verknüpfungen nach Kausalgesetzen. F. Capra sieht als positive Entwicklungs-Symptome in diesem Sinne: das Ökologiedenken in der Politik (das die Jugend der ganzen Welt erfaßt hat), die Renaissance der Yin-Yang-Theorie und östlicher Philosophien wie Lebenspraktiken (der Körper und Geist auf hohem Niveau gleichermaßen einbeziehen), die gewaltigen Frauenbewegungen u.v.m..

Die "Gestaltung" ist auch beim Machen von Architektur das wichtigste übergreifende, vereinigende Prinzip. Seine steigende Bedeutung entspricht der vielleicht wichtigsten Entwicklung des philosophischen Weltbildes.

1) Karl R. Popper und John C. Eccles, Das Ich uns sein Gehirn, 1977.

2) berichtet in Friedjof Capra, Wendezeit, 1983, S. 86 ff.

3) Chr. v. Ehrenfels, Über Gestaltqualitäten, Wien 1890.

4) Wolfgang Köhler, Gestalt-Probleme und Anfänge der Gestalt-Theorie, 1932.

5) Karl Bühler, Das Gestalt-Prinzip im Leben der Menschen und der Tiere, 1960.

6) Curt Siegel, Strukturformen der modernen Architektur, 1960.