Wolfgang Meisenheimer

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Was ist in der Architektur "Bedeutung"?

Dokumentation eines Seminars zu Fragen der Architekturtheorie veranstaltet im Lehrgebiet Grundlagen des Entwerfens (Prof. Dr.-Ing. Wolfgang Meisenheimer) durch den Fachbereich Architektur der Fachhochschule Düsseldorf im SS 1976

Inhalt:

Wolfgang MeisenheimerEinführung in den Themenkreis
Friedrich Chr. WagnerStrukturen des Leibraumes
Julia SaechtlingDie Untersuchungen zur Proxemik von Edward T. Hall
Sabine MengelDie Bedeutungslehre von Jakob von Uexküll
Wilfrid JochimsAnmerkungen zum musikalischen Bedeutungsbegriff
Thomas C. DawoDie Bedeutung als Problem für Wahrnehmungslehre (A) und Exakte Ästhetik (B)
Wolfgang MeisenheimerDie verschiedenen Bedeutungsdimensionen von Architektur und Sprache
Alban JansonGegenüberstellung zeichentheoretischer Konzepte. Diskussion ihrer Verwendbarkeit für eine Architekturtheorie
Heinz BehrendtKomplexität und Monotonie im elementierten Bauen
Jürgen PahlForm und Bedeutung in der Stadtgestalt
Günther FeuersteinArchetypen des Bauens
Hans Ulrich BitschBericht über die Internationale Architekturpsychologische Konferenz "The Appropriation of Space" in Straßburg, Juni 1976


Referenten- Verzeichnis:

Prof.Dipl.-Ing. Heinz Behrendt, FHD, lehrt "Entwurf Architektur" und "Planungs-Systematik", Prof. Hans-Ulrich Bitsch, FHD, lehrt "Design-Methodologie" und Möbel-Entwurf", Prof. Thomas Dawo, FH Düsseldorf, lehrt "Gestaltungslehre", Prof. Dr. Günther Feuerstein, Hochschule für Gestaltung Linz, Lehrkanzel für Umraumgestaltung und Technische Universität Wien, Dipl.-Ing. Alban Janson, Uni Dortmund, Prof. Wilfrid Jochims, Staatliche Hochschule für Musik Rheinland, lehrt "Gesang" sowie "Phonologie - Phoniatrie", Sabine Mengel, Dipl.-Ing. Architekt, Prof.Dipl.-Ing. Jürgen Pahl, FHD, lehrt "Stadtbaugeschichte" und "Entwurf Städtebau", Julia Saechtling, Dipl.-Ing. Architekt, Prof. Dr.-Ing. Friedrich Christoph. Wagner, FHD, lehrt "Gestaltungslehre".

Einführung in den Themenkreis

In der Reihe der Seminare zu Fragen der Architektur-Theorie im Lehrgebiet "Grundlagen des Entwerfens" hieß das Thema des Winterseminars 75/76 "Was verstehen wir in der Architektur unter Strukturen?". Das Sommerseminar 76 stellt nun die Frage: "Was ist in der Architektur Bedeutung?"

Schon ein erstes vorwissenschaftliches Verständnis zeigt, daß gebaute Dinge vielschichtig bedeutungsvoll sind, daß sie "zu uns von etwas reden". Architektur erfüllt z.B. praktische Aufgaben, sie ist für jemand von Nutzen - oder auch nicht. Sie wird gebraucht, Dinge und Menschen zusammenzubringen oder voneinander zu trennen. Sie kann aber darüber hinaus diese Trennung und diese Zusammenführung symbolisch darstellen. Sie erinnert möglicherweise an persönliche Erlebnisse oder an Familiengewohnheiten. Sie ermöglicht durch ihre Materialien und Proportionen, durch ihre ästhetischen und technischen Merkmale bestimmte Aktivitäten ihrer Bewohner. Sie stellt eine "Voraus-Erinnerung" an diese möglichen Handlungen dar. Die Anordnungen ihrer Räume kanalisieren Bewegungsverläufe. Ihre Formen können einzelne Menschen und Institutionen charakterisieren oder sogar Vorgänge, Gesten und Dinge bildlich nachgestalten. Es gibt Bauwerke, die wie Elefanten aussehen. Andere sind vereinbarte Zeichen, die nur von Eingeweihten "gelesen" werden können.

Aber bei aller Vielfalt angelagerter Bedeutungen: Bauten sind auch sinnvoll als Raumphänomene eigener Art. Als solche sind sie nicht eigentlich beschreibbar, sie sind erst recht nicht ersetzbar, auch nicht durch wissenschaftliche Texte.

Praktische Planungsarbeit scheint uns nur dann sinnvoll zu sein, wenn es uns in den Büros und in der Hochschule gelingt, Einsichten in diese verschiedenen Bedeutungshintergründe zu gewinnen. Deshalb versucht unser Seminar insbesondere, die kommunikativen Aufgaben und Eigenschaften architektonischer Objekte und Pläne zu beschreiben und zu klassifizieren:

"Welche Arten von Mitteilung machen gebaute Dinge möglicherweise an jemand?"
Wir hoffen, Analysen von dieser Art könnten die Basis werden für weitere Arbeitsschritte: für die Suche nach einer operativen Theorie, die konkrete Planungsziele formuliert:
"Welche Arten von Mitteilung SOLLTEN gebaute Dinge machen und an WEN?"

Die Versuche des Seminars, die anfangs genannte Elementar-Definition von Bedeutung ("etwas ist sinnvoll für jemand") für die spezifisch architektonischen Zusammenhänge zu nuancieren, könnte man in drei Themenkreise einordnen:

Architektur als Umwelt,
Architektur als (nicht-linguistische) Sprache,
Architektur als Welt künstlich hergestellter Dinge (Artefakte).

Die Frage nach Bedeutungen der (Architektur als) Umwelt hat ihre Ansätze in der Naturwissenschaft, der Biologie, der "objektiven" Psychologie, dem Behaviorismus, der Verhaltensforschung sowie der behaviouristischen Zeichentheorie.

I.P. Pawlow (1849-1936) beschreibt 1923 das Verhalten von Tieren zu den Dingen ihrer Umgebung durch Reiz/Reaktions-Schemata mit streng kausalem Charakter. Seine Lehre der bedingten Reflexe führt zur immer differenzierteren Beobachtung der Anpassung von Individuum und zugehöriger Objektwelt und schließlich zu den modernen Lerntheorien. J.B. Watson (1878-1958) macht 1925 ausdrücklich zum Gegenstand seiner "objektiven" Psychologie, die er Behaviourismus nennt, was ein Organismus tut oder sagt, d.h. Ausschnitte seines beobachtbaren Verhaltens. J. v. Uexküll (1864-1944) wird zum Begründer der "Umwelt"- Forschung im engeren Sinne, indem er das Verhältnis von Organismus und Reizwelt als geschlossenen Bedeutungs-Zusammenhang beschreibt. Jeder Organismus lebt nach Uexküll in einer artspezifischen Umwelt, die jeweils aus Funktionskreisen mit Objektfaktoren (Merkwelt) und Subjektfaktoren (Wirkwelt) besteht.

Anthropologen machen schon in den 20-er Jahren darauf aufmerksam, die Zuordnung von Reizen und Reaktionen (Stimulus/Response = S/R) sei beim Menschen nicht zwanghaft wie bei Tieren. Für menschliches Leben sei vielmehr beides gleichzeitig charakteristisch: Anpassung an die Umwelt einerseits - und Lösen von der Umwelt sowie Verändern der vorgegebenen Umwelt andererseits. So spricht z.B. M. Scheler (1874-1928) von der Erweiterung der "Umwelt" zur "Welt". A. Gehlen (1904-1976) erklärt, die Welt der Technik und der Institutionen entlaste gerade den natürlichen Instinkt-Apparat. Daher sei menschliche Zivilisation charakterisiert durch Entsinnlichung und Domestizierung. Von daher ist Architektur als Ersatzwelt für die Umwelt des natürlichen Organismus zu verstehen (die nur noch hypothetisch existiert). Neuere Entwicklungen hat der amerikanische Funktionalismus der Gegenwart gebracht, der nicht nur äußere (Reiz-) Bedingungen des Verhaltens berücksichtigen will, sondern auch innere (individuelle) Bedingungen des agierenden Individuums: seine soziale und kulturelle Motivation, seine Emotionalität, seine Intentionalität etc.. B.F. Skinner (1904) unterscheidet z.B. subjektgesteuertes von reaktivem Verhalten. Ähnlich erklärt die vergleichende Verhaltensforschen (z.B. das Max-Planck-Institut für Verhaltensphysiologie in Seewiesen, Obb. / K. Lorenz (1903) u.a.), das Verhalten werde bestimmt sowohl durch äußere Reize (Reflextheorie) als auch durch endogene (spontane) Reizerzeugung. Ch. W. Morris versteht seine behaviouristische Zeichentheorie (1938) als Versuch einer Formalisierung der Interpretationsgewohnheiten eines Organismus gegenüber seinen aktualen und auch abwesenden (virtuellen) Umwelt-Objekten. Die praktische Architektur-Psychologie der neuesten Zeit (K.Lynch, C. Steinitz, D. Canter, E.T. Hall, R. Sommer, H. Becker /K. Keim, M. Krampen u.a.) beobachtet und dokumentiert speziell das Verhalten von Menschen in gebauten Räumen und geht dabei soweit, Techniken zu entwickeln, die die subjektive Bedeutung eines Objekts und/oder einer Situation für ein Individuum messen können (Semantisches Differentail, Q-Technik etc.).

Unser Seminar beginnt mit einer experimentellen Übung in diesem Zusammenhang: jedem Teilnehmer wird deutlich, welche elementaren Bedeutungen den Nahraum um unseren Leib (Körperraum, Umraum) prägen. Zugleich wird eine Information über die "proxemischen" Forschungen von E.T. Hall gegeben, der systematisch beobachtet, welche Körperabstände Menschen bestimmter sozialer und kultureller Gruppen in bestimmten Situationen von Dingen ihrer Umwelt und voneinander minimal/maximal/optimal einhalten.
Ein Bericht über die Internationale Architekturpsychologische Konferenz in Straßburg "The Appropriation of Space", Juni 1976 zu aktuellen Untersuchungen über Architekturraum als Umweltraum erregt besondere Aufmerksamkeit. Dagegen werden beim Studium der architekturtheoretischen Versuche, die auf der Basis der Zeichentheorien von Ch.W. Morris, Chr.S. Peirce, M. Bense und E. Walther semantische Zeichenrelationen differenzieren wollen, Tendenzen zu bloß formalisierender Ordnung deutlich.

Einen anderen Weg geht der Versuch, Architektur als eine von vielen möglichen Sprachen aufzufassen und deren verschiedene semantische Dimensionen mit Hilfe von Schemata der Linguistik zu unterscheiden. Für diese Art von Betrachtung gibt es in der Literatur nur wenige Hinweise (J. Trabant, J.G. Fages, R. Barthes). G. Schiwy schlug vor, bestimmte Grunddefinitionen von F. de Saussure (langue/langage/parole, dialect/ideolect/soziolect, dichronie/synchronie etc.) auf Architektur-Sachverhalte zu übertragen. Im Seminar wird der Vorschlag gemacht, entsprechend der Sprachtheorie K. Bühlers (1934) drei Bedeutungsarten oder Aussage-Funktionen durch ihren jeweils andersartigen Bezug zum Sprecher (Sender), zum Hörer (Empfänger) bzw. zu gemeinten Sachverhalten oder Gegenständen zu charakterisieren. Möglicherweise ist eine weitere Differenzierung entsprechend der Definition der Funktionsregeln von R. Jakobson (Essays de linguistique gènèrale, 1963) sinnvoll. Entscheidend wird aber für Architekten die Frage sein, mit welchen Mitteln es möglich ist, die besonderen Sinndimensionen von Architektur anzusprechen. Die aber sind an materiale Raumstrukturen gebunden. An Gebautes sind zwar vielerlei kommunikative Systeme ("Sprachen" im weitesten Sinne) angelagert; es hat aber als Raumphänomen auch unmittelbar gegebenen eigenen Sinn, der gerade NICHT in andere "Sprachen" übersetzt werden kann und der deshalb auch nicht in einem Modell linguistischer Sprachfunktionen zureichend dargestellt werden kann. Allerdings helfen solche Modelle sehr wohl, die Mannigfaltigkeit der Funktionsarten aufzuzeigen und zu ordnen.

Einen dritten Weg geht die Frage nach der Bedeutung von Architektur als Artefakt, als künstlich geschaffene (nicht gewordene, gewachsene) Welt von Objekten eigener Gesetzmäßigkeit und Geschichtlichkeit. Welche Schöpfungs-, Verarbeitungs- und Zerstörungs-Vorgänge lassen aus dem architektonischen Formenarsenal sinnvolle Gestalten entstehen? Welche Produktionsbedingungen persönlicher, gesellschaftlicher, kultureller Art usw. sind notwenig, um typische oder gar archetypische Formen hervorzubringen? Wer schafft eine solche künstliche Welt und für wen? E. Casssirer (1874-1945) deutet die Welt der Kunst als eine Welt selbstgeschaffener Zeichen und Bilder, die der Mensch der sogenannten "objektiven Wirklichkeit der Dinge" entgegensetze. S. Langer bezeichnet in ihrer Kunstheorie (1953) Architektur als ein Bild des Lebens, als eine künstliche, virtuelle Darstellung der funktionalen Existenz des Menschen. In diesem Sinne fragt das Seminar nach der Rolle von Bedeutung und Form beim Gestaltwandel im Städtebau und schließlich nach der Definition architektonischer "Archetypen". Architektur wird als eine Kunstwelt beschrieben, deren Gestalt durch NICHT-architektonische (heteronome) Faktoren präfiguriert sind: durch technoide, ikonologische, literarische, geometrische, metaphorische und andersartige semantische Faktoren.

Alle drei thematischen Ansätze (Architektur als Umwelt /Architektur als Sprache /Architektur als Artefakt) lassen das Hauptanliegen des Seminars deutlich werden: DIE FRAGE NACH DEN BEDEUTUNGEN DES GEBAUTEN UND GEPLANTEN MUSS ZUM AUSGANGSPUNKT UNSERER ARBEIT WERDEN.

Ohne Bewußtsein von den Planungszielen ist Planungsorganisation sinnlos. Ohne Einsicht in die Vielfalt der Sinnschichten, der Bedeutungshintergründe, bleibt die Arbeit an den Mitteln (Herstellungstechnik, Industrialisierung, Materialtechnologie, Entwurfsmethodik, Rationalisierung, Kontrolle der Ökonomie) nichtssagend und leer.

Jeden Tag nehmen wir eine weitere Verödung der architektonischen Umwelt wahr, den anonymen Umsatz von Baumassen als Ware, die Ohnmacht der Nutzer, die Bedenkenlosigkeit der Planer, die semantische Leere der meisten Neubauten. Statt dessen wollen wir eine Umwelt mannigfaltiger gestalten, eine Welt zum Leben, Selbstdarstellung der Macher UND der Nutzer: eine Architektur, an der Bedeutungen vielschichtig ablesbar sind.