Wolfgang Meisenheimer

ad 3

"Der Zeit-Charakter der Architektur: Nutzung, Änderung, Bewegung, Alterung"

Dokumentation eines Seminars zu Fragen der Architektur-Theorie veranstaltet im Lehrgebiet Grundlagen des Entwerfens (Prof. Dr.-Ing. Wolfgang Meisenheimer) durch den Fachbereich Architektur der Fachhochschule Düsseldorf im SS 1977 in der Orangerie des Benrather Schlosses, Düsseldorf

Inhalt:

Wolfgang MeisenheimerEinführung in den Themenkreis
Paul KuffDie Rolle der Dynamik in der Tragwerkslehre
Rainer BenedictEntwickeln wir unsere Umwelt /entwickelt sich unsere Umwelt - zum Untergang?
Werner Ruhnau Bauen als Gestalten des bio-klimatischen Milieus
Roland GüntherNutzungsvorgänge aus psychologischer und sozial- psychologischer Sicht
Wolfgang PohlDas lähmende Tempo. Einige Gedanken zur Geschwindigkeit beim Bauen
Karl WimmenauerDas Altern der gebauten Dinge
Zamp Kelp (Haus Rucker Co)Provisorien gliedern die Stadtlandschaft
Manfred Speidel /Willi FlindtVom Ritual zum Schauspiel - Strukturformen des japanischen Raumes
Friedrich Chr. WagnerBemerkungen über Architektur und Musik
Wolfgang Meisenheimer Bewegungs-Strukturen bei Architektur und Tanz

 

Referenten- Verzeichnis:

Rainer Benedict, Dipl.-Ing. Architekt, Prof. Dr. Roland Günter, Kunsthistoriker, Oberhausen, Dipl.-Ing. Günter Zamp Kelp (Haus Rucker-Co.),Architekt Düsseldorf, Prof. Dipl.-Ing. Paul Kuff, FHD, lehrt "Tragwerkslehre", "Lehre der Tragsysteme", "Entwurf Architektur", Dipl.-Ing. Werner Ruhnau, Architekt, Essen, Prof. Dr.-Ing. Manfred Speidel. T.H. Aachen, Kunsthistorisches Institut, lehrt "Architektur-Theorie", Prof. Dr.-Ing. Chr. Friedrich Wagner, FHD, lehrt "Gestaltungslehre", Prof. Dipl.-Ing. Karl Wimmenauer, Staatl. Kunstakademie Düsseldorf.

 

Einführung in den Themenkreis: "Zeit"-Definitionen

Das Theorie-Seminar im Schloß Benrath will aufzeigen, daß Architektur nicht nur durch Raumstrukturen, sondern auf mannigfaltige Weise auch durch Zeit-Strukturen bestimmt ist. Architektur hat Ereignis-Charakter, sie ist auf sich verändernde Erlebnisse hin angelegt. Man erfaßt sie in der Bewegung. Auch die materialen Bauteile selbst können als bewegliche, bewegte oder veränderbare Elemente konzipiert sein. Nicht nur der Vorgang der Entstehung hat Zeit-Charakter. Bauwerke altern. Bauwerke haben Geschichte und beziehen sich auf Geschichte. Auf vielfache Weise ist also in Architektur Zeit realisiert.

Von verschiedenen Seiten her versucht das Seminar, Zeit-Merkmale beim Bauen und im Gebauten aufzuzeigen. Dabei kommt es eher auf die Vielfalt der Phänomene als auf exakte begriffliche Klärung an. Dennoch ist es notwendig, einige definitorische Grundunterscheidungen an den Anfang zu stellen.

J.E. Mc. Taggert hat (in The Nature of Existence, 1927) vorgeschlagen, grundsätzlich zwei Arten von Zeit-Strukturen zu unterscheiden: Zeit-Arten vom Typus "Vergangenheit - Gegenwart - Zukunft" (A-Typus) und Zeit-Arten vom Typus "früher - später" (B-Typus). Dabei ist für den A-Typus charakteristisch, daß er Subjekt-abhängig und nicht konstant ist: Zeit-Bestimmungen der A-Reihe sind auf den erlebenden Menschen bezogen.

  1. METRISCHE ZEIT

    Durch Mathematik und Naturwissenschaften werden Objekt - Objekt- Beziehungen vom Typus "früher - später" (B-Typus nach Mc. Taggert) durch die Definition der metrischen Zeit erfaßt.

    1. Topologische Aussagen zur Zeit-Ordnung:

      Isaak Newtons Definition der absoluten Zeit: "Die absolute, wahre und mathematische Zeit verfließt an sich und vermöge ihrer Natur gleichförmig und ohne Beziehung auf irgendeinen äußeren Gegenstand". (Gr. Duden Lexikom, S. 721)

      Norbert Wiener unterscheidet bereits

      1. die umkehrbare Zeit, auf die die Modelle der astronomischen und mikrophysikalischen Prozesse aufgebaut sind (= "absolute Zeit" Newtons) und

      2. die nicht umkehrbare Zeit, gerichtete Zeit, auf die die Modelle der makrophysikalischen Prozesse der Biologie, der Thermo-dynamik und der Meteorologie aufgebaut sind. (II. Satz der Thermodynamik: "Die Entropie eines geschlossenen Systems kann nur zunehmen.")

        So ist etwa die Laufrichtung eines Planetariums umkehrbar, nicht aber die Entwicklung von Wolken, Blitz und Donner.

        Albert Einstein konzentriert die Zeit-Diskussion der Physik auf Aussagen über den Kausalzusammenhang von zwei aufeinander folgenden Ereignissen (Relativität der Gleichzeitigkeit).

    2. Metrische Aussagen zur Zeit-Ordnung (Messung):
      Instrumentell ist die Messung der zeitlichen Verläufe möglich

      einerseits durch Perioden anzeigende Uhren (Atom-Uhren, Quarzuhren, Pendeluhren, astromonische Uhren, "Blumen-Uhren" etc.), dabei z.B. Bezug zum Meridian-Durchgang und entsprechende Setzung von Zeit-Einheiten (t) wie Stunde /Minute / Sekunde

      oder andererseits durch kontinuierlich die Zeit anzeigende Uhren (Sanduhren, Wasseruhren, Feueruhren etc.).


  2. ERLEBNISZEIT

    Die Psychologie definiert Subjekt-Objekt-Bezüge vom Typus "Vergangenheit - Gegenwart - Zukunft" (A-Typus bei Mc. Taggert) als Erlebniszeit. Gegenstand ist dabei das Phänomen des Verstreichens der Zeit, der Durchgang des Gegenwärtigen von der Vergangenheit in die Zukunft, wobei eigentlich nicht die Zeit (an sich) wahrgenommen wird, sondern nur Vorgänge in ihr.

    Wesentlich für die Zeit-Wahrnehmung des Erlebnis-Subjekts sind erstens das Hören, zweitens physiologische Rhythmus-Vorgänge des Organismus (Atem, Puls etc.) sowie drittens Bewegungen (der Glieder, der Augen etc.).

    Arten von Zeit-Erlebnissen sind:

    1. retrospektive (epimetheische ) Erlebnisformen: Langzeit- /Kurzzeitgedächtnis, Erinnerung, Erfahrung etc.

    2. prospektive (prometheische) Erlebnisformen: Drang, gerichtete Gefühle, Erwartung, Befürchtungen, Hoffnungen, Wollen, Planen etc.

      Die Psychologie versteht unter "psychische Präsenz-Zeit" die Zeitspanne, während welcher soeben Vergangenes noch im Bewußtsein haftet (max. 4 - 12 sec.). Die kürzeste abschätzbare Zeit-Einheit: ca. 1/18 sec. (Daher sind 18 Eindrück /sec. nötig, um z.B. bei der Raumwahrnehmung kontinuierlich bewegte Bilder zu erzeugen: Film!

      "Zeit-Perspektive" nach K. Lewins psychologischer Feldtheorie: Je größer ein Zeitraum nach Vergangenheit und Zukunft hin, den ein Mensch in sein Verhalten einbezieht, umso größer sind Reife und Geschlossenheit der Persönlichkeit


  3. PHILOSOPHISCHE UND GESCHICHTSWISSENSCHFTLICHE ZEIT-IDEEN

    Neben den Zeitbegriffen der Mathematik und Naturwissenschaft einerseits und denen der Psychologie andererseits stehen die vielfachen Zeit-Ideen der Philosophie und der Geschichtswissenschaft, die Zeitphilosophien bei Aristoteles, Hegel und Heidegger, die Zeit als Kategorie der Anschauung bei Kant, der Begriff der Dauer bei Bergson, peirische und apeirische Zeit bei Conrad-Martius, Retention, Jetzt-Bewußtsein und Protention bei Husserl und viele andere Zeitbegriffe. Das Seminar kann nur punktweise die philosophischen Konzeptionen beim Aufdecken der spezifisch architektonischen Zeit-Phänomene berühren.


  4. DIE DARSTELLUNG VON ZEIT

    Alle bisher berührten Zeit-Strukturen betrafen aktuale und gedachte Zeit. Natur, Technik und Kunst aber stellen Zeit materialiter dar: im Colorado-Flußbett können wir 600 Millionen Jahre alte Meerestiere sehen, an seinen Jahresringen lesen wir das Alter eines Baumes ab. Ein Blasenkammerfoto zeigt die Spur von Mesonen und Protonen im Wasserstoff. Marcel Duchamp zeigt einen "Akt, die Treppe hinabsteigend". Musik, Tanz, Literatur, Plastik, Malerei, Graphik, Film und Architektur, alle diese künstlerischen Medien stellen Zeit-Strukturen mit ihren Mitteln, in ihren Materialien dar. Zeit ist hier Werkzeit: Merkmal geschaffener Dinge.

    Architektur hat nicht nur mit einer dieser vier Charakteristiken von Zeit zu tun, sondern mit allen diesen. Das Bauen ist ein physikalischer Vorgang, hat metrisch meßbare Strukturen. Bauten werden erlebt und werden für Erlebnisse entworfen, sie sind auf Menschen bezogen. Gebautes stellt Ideen dar, Gebautes transportiert Geschichte. Gebautes kann auch Kunstwerk sein, charakterisiert durch eigene zeitliche Strukturen.

    Einen zentralen Komplex aus diesem Zusammenhang wird das Seminar bewußt aussparen, weil er den Rahmen sprengen würde: den der Architekturgeschichte und der Geschichte-Bezogenheit von Architektur. Er wird das Thema eines eigenenen Seminars sein müssen.