Wolfgang Meisenheimer

ad 7

"Architektur : Natur"

Dokumentation eines Seminars zu Fragen der Architektutheorie veranstaltet im Lehrgebiet Grundlagen des Entwerfens (Prof. Dr.-Ing. Wolfgang Meisenheimer) durch den Fachbereich Architektur der Fachhochschule Düsseldorf im SS 1980 in Kronenburg (Eifel)

Inhalt:

Wolfgang MeisenheimerEinführung in den Themenkreis
Gregory Wolf /Bettina StefanHistorische Bauten nach dem Bild von Naturformen
Peter SchmidNatur - Mensch - Architektur - Ganzheit
Dieter FuderZur unvollkommenen Paradigmengeschichte des Naturbegriffs - Die Natur auf der Schaukel
Bernd KirchnerArchitektonik der Pflanzenformen
Christoph ParadeMit Grün bauen
Frank Rüdiger HildebrandtBauen lebensorientiert - kosmosorientiert, Zum Bauimpuls Rudolf Steiners und seinem Weiterwirken
Rudolf DoernachLeben als Baustoff: Biotektur
Jürgen Pahl Stadtlandschaft: Naturlandschaft
Wolfgang MeisenheimerUnd doch: Architektur ist künstlich

 
Referenten- Verzeichnis:

Dipl.-Ing. Rudolf Doernach, Biotektur Institut Wildberg, Prof. Dr.phil. Dieter Fuder, FHD, FB Design, lehrt "Designtheorie", Gregory Wolf, Dipl.-Ing. Architekt, Dipl.-Ing. Frank Rüdiger Hildebrandt, Alanus-Hochschule der Musischen und Bildenden Künste, Alfter b. Bonn, lehrt "Entwerfen Architektur", Dipl.-Biologe Dr. Bernd Kirchner, Ruhr-Universität Bochum, Prof. Dipl.-Ing. Jürgen Pahl, FHD, lehrt "Stadtbaugeschichte" und "Entwurf Städtebau", Dipl.-Ing. Christoph Parade, Architekt, Prof.mag.arch. Peter Schmid, Technische Hogeschool Eindhoven, FB Architektur und Städtebau, Abt. Baukunde, lehrt "Humanökologie" und "Grundlagen des Entwerfens", "Ausbautechnik und Milieuintegration", Bettina Steffan, Dipl.-Ing. Architekt.

Einführung in den Themenkreis:

1. Anmerkungen zum Begriff "Natur"

Der Begriff "Natur" (lateinisch "natura", griechisch "physis") ist naturwissenschaftlich, philosophisch und theologisch vieldeutig. Allgemein wird Natur als der dem Menschen vorgegebene Zustand des Kosmos, als das technisch noch Unberührte verstanden. Natur steht in diesem Sinne im Gegensatz zu Kultur bzw. Technik. Ihre empirische Erforschung wird durch die Naturwissenschaften (insbesondere Physik, Chemie, Biologie) geleistet. Als besonders wichtig für Architekturtheorie und -Praxis wird neuerdings u.a. die Ökologie angesehen, die Lehre von der Beziehung der Organismen zueinander, von den natürlichen Ressourcen und Umwelt-Qualitäten.

Der "organischen Natur" gehören alle Wesen zu, die ein organisches Wachstum haben: Pflanzen, Tiere und Menschen, der "anorganischen Natur" die leblosen stofflichen Elemente. Im übertragenen Sinne heißt auch die innere Wirkgesetzlichkeit der kosmischen Kräfte und Dinge "Natur". Als die "Natur eines Lebewesens" wird seine von Geburt an gewachsene Besonderheit verstanden, insbesondere die biologisch-triebhafte Sphäre des Lebens. Natur steht, so verstanden, im Gegensatz zu Geist. Philosophische Erkenntnisse auf diesem Gebiet erarbeitet die Naturphilosophie. In der philosophischen Ästhetik - etwa bei Hegel - wird "Kunstschönes" von "Naturschönem" unterschieden, das von Menschen hergestellt bzw. nicht hergestellt und strukturiert ist.

Im religiösen Sinne ist Natur der naturgesetzlich gegebene Zustand des Menschen und seiner Umwelt gegenüber der "Übernatur". Religiöse Erklärungen und Interpretationen, insbesondere der Entstehung der Welt und des Menschen , liefern seit Jahrtausenden Natur-Mythen und Schöpfungslehren.

Die Geschichte des Naturbegriffs beginnt wohl mit dem animistischen Naturverständnis primitiver Völker. Menschen verehren und fürchten Geister, die in Naturgestalten und -Ereignissen erscheinen und fühlen sich abhängig von ihnen. Nach dem Naturverständnis der Griechen sind die Dinge und Formen der Natur zweckmäßig und rational erklärbar, nach ihrer idealen Vorstellung wiederholen sich die natürlichen Ereignisse in einem zyklischen Rhythmus, dem Menschen und Götter unterworfen sind. Erst im jüdisch-christlichen Naturverständnis wird der Mensch als Herrscher über die Natur vorgestellt, Mensch und Natur-Umwelt stehen einander gegenüber. Der Mensch nimmt hier die Haltung des Ausbeuters an, verhält sich skeptisch gegenüber ungebändigter Natur und verleugnet z.B. körperliche Sinnlichkeit. (Sinnlichen Genuß an der Natur gibt es erst im 17. Jahrhundert!) Auf diese Denkhaltung sind Abbau und Ausbeutung der Naturschätze zurückzuführen, die inzwischen bedrohliche Ausmaße angenommen haben. Erst in allerneuester Zeit dringt philosophisch und politisch ins Bewußtsein, daß der Lebensraum des Menschen als Teil des Naturkosmos zu verstehen ist, daß Natur und Menschenwelt in ökologisches Gleichgewicht gebracht werden müssen, daß sie zusammen ein "Öko-System" bilden.

Für östliches Natur-Denken ist diese Einsicht seit Jahrtausenden selbstverständlich. So geht z.B. die chinesiche Philosophie des Feng-Shui (allerdings im europäischen Sinne unwissenschaftlich, nicht zergliedernd) davon aus, bei JEDER Aktivität des Menschen (technisch, philosophisch, künstlerisch etc.) komme es auf Einfügung in die Struktur des Naturkosmos an. Der Mensch wird als Teil dieses Naturkosmos gedacht, dessen Ordnung er versucht darzustellen.

 
2. Das Verhältnis von Architektur zu Natur

Entsprechend der strukturalen Ordnung der gebauten Dinge kann Architektur in dreifacher Hinsicht auf Natur bezogen sein.

Zunächst durch ihre materialtechnischen Eigenschaften. Seit Jahrtausenden spielen natürliche Baumaterialien eine große Rolle: Erde, Wasser, Luft, Holz, Stroh, Stein, Leder, Laub etc.. In bestimmten Kulturlandschaften prägen ausgewählte Naturmaterialien bis heute das Gesicht der Architektur (Bruchsteinhäuser, Strohdächer, Fachwerkhäuser, Lehmarchitektur, Zelte etc.). Dabei finden sich sowohl die Eigenarten der Elemente natürlicher Strukturen (Steine, Stämme, Riemen etc.) als auch die Eigenarten ihrer Anordnungen und Systeme (Gitter, Schalen, Ketten, Blasen, Agglomerate etc.) im Gebauten wieder. Entsprechend unterscheidet man in der Typologie der Baukonstruktionslehre Holzbau, Steinbau, textiles Bauen, Erdbauweise usw.. Merkwürdigerweise werden neu eingeführte, "künstliche" Baustoffe häufig in Anlehnung an "natürliche" behandelt (Stahlbeton wie Holz, Kunststoff wie Textil etc.). Auch ist bemerkenswert, daß die Charakteristika in dieser Weise landschaftgebundener Bauten durchaus nicht lediglich aus dem Naturmaterial heraus entwickelt sind, sondern dessen Eigenart benutzen, zugleich aber kulturspezifisch umwandeln, verändern usw.! So beeindruckt z.B. der japanische Holzbau u.a. durch die "unnatürlichen" Details vielfach horizontal auskragender, auf Biegung beanspruchter Hölzer.

In ganz anderer und bedeutsamer Weise wirken die Kräfte und die Elemente der Natur in die Funktionen des Architekturraumes als Lebensraum hinein. Die Reservate der Natur machen Leben (Zustände und Vorgänge) erst möglich: Sonnenlicht, Schatten und Wärme, Luft in Bewegung und Ruhe, kalt und warm, trocken und feucht, Wasser, Erde, Pflanzen und Tiere. Architektur benutzt einerseits Natur, andererseits schützt sie vor Natur, indem sie ein künstliches Klima erzeugt, Tiere fernhält usw.. Durch die Überhöhung und Änderung der physischen Bedingungen werden Atmosphäre und Wohlgefühl, Schutzgefühl, aber auch Angst und Schaudern erzeugt. Besonders seit der studentischen Revolution von 1968 wird die Aufmerksemkeit der Politiker, der Medien, der Bürgerinitiativen und der Fachleute auf die Frage gerichtet, welche Konsequenzen der ausbeuterische Umgang mit Naturstoffen und -Kräften haben wird, den sich besonders die Industrie-Nationen leisten. Symptome für bedrohliche Veränderungen sind u.a. die Erhöhung der Temperatur im Raum der Großstädte (durchschnittlich 3° - 4° höher als auf dem Land), die Abnahme der Luftfeuchte, die Zunahme der Luftbelastung durch Staub und chemische Schadstoffe, die Abnahme des Sauerstoffgehalts und der Strahlungsmenge an der Erdoberfläche, die ständige Zunahme des Lärms in den Stadtbereichen und ähnliche Erscheinungen. Gleichzeitig steigt das Interesse besonders der Jugend an Zukunftsfragen im Hinblick auf die Natur. Die Frage: "Wie können wir die Energien, die Formen, die Schönheiten der Natur einbeziehen in unseren künstlichen Lebensraum?" fordert alle beweglichen Geister heraus, enthusiastische und pessimistische. Auf der politischen Ebene hat sich besonders die Bewegung der "Grünen" dieser Frage angenommen. Freilich gibt es auch Schwärmer, die die Rolle der Natur eher romantisierend und nostalgisch sehen, die am liebsten auf Bäumen leben und die Entwicklungsstufe der Maschinen-Zivilisation vergessen möchten. Das mag als Lebenhaltung eines einzelnen sympathisch sein, bleibt aber als Leitidee für unsere fachliche Arbeit sicher unzureichend.

Neben dem technisch-konstruktiven und dem funktionellen Aspekt steht drittens der ästhetische. Gebaute Formen können Naturgestalten und natürliche Systeme bildlich nachahmen. Häuser können wie Bäume und wie Elefanten aussehen, Treppenhäuser wie Schnecken, Fassaden wie Langusten, Tore wie Fischmäuler. Dach-Tragwerke erinnern möglicherweise an Seifenschaum oder an Spinngewebe, Türme an Stalagmiten, Stadtteile an Zellgewebe usw..

Das Seminar möchte versuchen, die Fülle der Aspekte deutlich zu machen, die Architektur mit Natur verbinden und von Natur trennen. Wir sind auf dem Wege zu neuen Einsichten in die Rolle der vorgegebenen Natur bei den Vorgängen des Bauens. Gebaute Dinge sollen Natur nicht nur benutzen, sie sollen nicht nur vor ihr schützen, sie sind darüber hinaus Ausdrucksversuche, das Verhältnis des Menschen zur Natur neu darzustellen, d.h. in Symbolen verständlich zu machen.