Wolfgang Meisenheimer

ad 4

"Innenraum - ein architektonisches Urphänomen"

Dokumentation eines Seminars zu Fragen der Architektur-Theorie veranstaltet im Lehrgebiet Grundlagen des Entwerfens (Prof. Dr.-Ing. Wolfgang Meisenheimer) durch den Fachbereich Architektur der Fachhochschule Düsseldorf im SS 1978 in den Räumen des Palais Wittgenstein, Düsseldorfer Altstadt

Inhalt:

Wolfgang MeisenheimerEinführung in den Themenkreis
Friedrich Chr. WagerMeine Fragen zum Thema
Piet NijsWohnstruktur, zwischenmenschliche Erfahrung und Kommunikation
Walter DmochPathogene Einflüsse der Wohnstruktur aus klinischer Sicht
Hans Molinski Mutterschoß als Urheimat
Maria RennerEntwicklungsbedingte Bedürfnisse bei Kindern und ihre Berücksichtigung bei Raumgestaltung und - konstruktion
Volkhart RudertPrimäre Hohlräume in Gesteinen
Herbert W. FrankeHöhlenforschung
Wolfgang MeisenheimerInnenraum, ein architektonisches Urphänomen
Silvia Pahl Bauen im Innern der Erde
Dietmar FilterBauten ohne Innenraum
Jürgen PahlDie Begrenzung des Stadtraumes als Blick- raum - ein Dimensionenproblem
Horst WagnerMusik und Innenraum: Illusionierung von Raum durch Musik und technische Mittler
Winfried JansenÜber die Schwierigkeit, Innenräume darzustellen
Dieter KühnStanislaw der Schweiger (Roman-Auszug)
Ellen BirkelbachDie Wohnung für einen Freund

Referenten- Verzeichnis:

Prof. Ellen Birkelbach, FHD, lehrt "Typologie der Wohnformen", "Einführung in das Entwerfen (Innenarchitektur)", "Entwurf Innenarchitektur", Dr.med. Walter Dmoch, Psychosomatische Abteilung der Univ.-Frauenklinik Düsseldorf, Dietmar Filter, Dipl.-Ing. Architekt, Dr. Herbert W. Franke, LB Uni München, lehrt "Kybernetische Ästhetik", Dr.phil. Dieter Kühn, Schrifsteller, schreibt Hörspiele und Romane, Dipl.-Arch. Winfried Jansen, LB FHD, lehrt "Darstellende Geometrie", Prof. Dr.med. Hans Molinski, Facharzt für Psychiatrie und Neurologie, Leiter der Psychosomatischen Abteilung der Univ.Frauenklinik Düsseldorf, Prof. Dr.med. Piet Nijs, Facharzt für Psychiatrie und Neurologie, Univ.Frauenklinik St. Raphael, Leuven, gynäkologische Psychosomatik und Sexualforschung, Prof. Dipl.-Ing. Jürgen Pahl, FHD, lehrt "Stadt- und Regionalplanung", "Einführung in die städtebauliche Planaung" und "Stadtbaugeschichte, Silvia Pahl, Dipl.-Ing. Architekt, Prof. Dr.phil. Maria Renner, Dipl.-Psychologe, Dr. Volkhart Rudert, Dipl.-Mineraloge, Prof. Horst Wagner, FHD, FB Sozialpädagogik, lehrt Musik, "Methodik und Didaktik der ästhetischen Erziehung" und "Kommunikationstheorie", Prof. Dr.-Ing. Friedrich Christoph Wagner, FHD, lehrt "Gestaltungslehre".

Einführung in den Themenkreis:

Höhlen, Seifenblasen, Zwischenräume, Gesteins-Drusen, illusionistische und real hergestellte Innenräume - alle diese Hohlräume sind ähnliche und doch verschiedenartige Phänomene. Für die Arbeit der Architekten als Raumgestalter ist es von elementarer Bedeutung, das Spezifikum von architektonischem Innenraum im Unterschied zu andersartigen Hohl- und Innenraumcharakteren zu analysieren, seine Bedeutungsdimensionen zu bestimmen und seine Machbarkeit zu erläutern. So heißt das Thema für das 4. architekturtheoretische Seminar des Fachbereichs Architektur 1978 im Palais Wittgenstein: "Innenraum - ein architektonisches Urphänomen".

Das Seminar versucht, die Eigenart der architektonischen Innenräume zunächst durch die Analyse verwandter Raumstrukturen in mehreren benachbarten Sachbereichen einzukreisen und vor diesem Hintergrund die Charakteristika der gebauten Innenräume zu analysieren. Die Referate können wir vier Komplexen zuordnen. 

  1. DIE (OBJEKTIV GEGEBENEN) HOHLRÄUME UND ZWISCHENRÄUME IN DER NATUR UND IN DER TECHNIK

    Beispiele sind etwa die primären Hohlräume in Gesteinen, Höhlen im Innern der Erde, Hohlräume in Zellstrukturen und Organen, von Tieren gebaute Höhlensysteme, Raumphänomene der Astronomie und schließlich technische Leerräume und Zwischenräume, z.B. solche in Tanks, Zylindern und pneumatischen Häuten. Dabei interessieren uns die Vielfalt, der Zauber der Gestalten ebenso wie die offenbare oder auch dunkle Sinnverknüpfung mit den Zusammenhängen der Umwelt bzw. die verschiedenen Zwecke und Ziele ihrer Erfindung.

  2. DIE (SUBJEKTIV GEGEBENEN) STRUKTUREN VON INNENRAUM ALS ERLEBNISRAUM

    Wir wissen, daß Innenraum-Erlebnisse durch Wahrnehmungshandlungen (Raum/Zeit-Verhalten ) entstehen, die eine Funktion von Person und Umwelt sind. (Kurt Lewin 1936). Diese Erlebnisvorgänge sind durch sensorische und nicht sensorische Determinanten bestimmt:
       

    1. SENSORISCHE DETERMINANTEN:
      Das sind die sinnlichen Bedingungen für das Zustandekommen von Innenraum-Erlebnissen.

      1. Die Augen (visuelle Raum-Strukturen: Linien, Licht, Farben, Gestalten etc.):
        Von den Phänomenen der Gestaltpsychologie (Lit. Wolfgang Metzger, Gesetze des Sehens, 1953), z.B. das Problem von "Figur und Grund": Wann wird eine Fläche zur Figur? - 1. Das Umschlossene wird Figur, das Umschließende Grund. - 2. Das Kleinere wird Figur. Oder z.B. das Problem von "Raum und Ding": Die Oberflächen der Dinge sind einseitige Grenzen, begrenzen die Dinge, aber nicht den Raum dazwischen. Das "Innen-Sein" (Figur, Ding) als elementare Sinnstruktur beim Gestalt-Sehen überhaupt: "innen" wird vom Auge gegenüber "außen" ständig bevorzugt!
      2. Die Ohren (akustische Raum-Strukturen: Lautstärken, Echos,Schall- richtung etc.):
        z.B. die Möglichkeit der Wahrnehmung von Raumgrenzen und Raumformen durch Geräusche besonders bei Blinden, z.B. die Möglichkeit der kreativen Änderung affektiver Raumqualitäten durch menschliche Stimme, durch Musik-Instrumente und technische Mittler, die Möglichkeiten der Illusionierung von räumlichen Effekten durch Hörraum-Strukturen etc..
      3. Tast- und Geruchsinn (haptische und olfaktorische Raumstrukturen):
        z.B. die Ortung der Dinge im Tastraum durch die Bewegungen unseres Körpers, durch die Arbeit der Füße, durch Wärme/Kälte-Empfindungen, z.B. die Erzeugung des räumlichen Wohlgefühls durch Berührungen der Haut, durch Duft-Empfindungen etc..
          

    2. NICHT SENSORISCHE DETERMINANTEN:
      Das sind die nicht-sinnlichen Bedingungen für das Zustandekommen von Innenraum-Erlebnissen.

      1. Die sozialen und kulturellen Bedingungen (Wertsysteme, Zwänge),
        unter denen Menschen Innenräume erleben. Ein Beispiel aus der Proxemik von E.T. Hall: Ein gut erzogener Amerikaner ist in der Lage und bereit, in einem großen Raum auch bei offener Tür zu arbeiten, - ein Deutscher zieht dagegen kleinere Räume vor und schließt unbedingt die Tür.
      2. Die psychischen Bedingungen individueller Art (Erinnerung, Veranlagung, Meinung) sowie typischer Art (klassenspezifisch, berufsspezifisch/ archetypisch etc.).
        unter denen Menschen Innenräume erleben. z.B. traumatische und Kindheitserlebnisse, Prägung durch vorgeburtliche Erlebnisse (Mutterschloß als Urheimat) etc..
      3. Die ideellen Ziele, Wünsche und Erwartungen, die persönliche "Einstellung",
        die ein Mensch in den Erlebnisablauf einbringt. z.B. ein Mensch möchte die Weite und Offenheit eines Raumes genießen, "da der Krieg vorüber ist".

        Wir müssen als Planer versuchen zu lernen, in welcher Weise Innenraum--Erlebnisse von solchen sinnlichen und nicht-sinnlichen Bedingungen abhängen. Wir beginnen damit, die Arbeitsergebnisse der entsprechenden wissenschaftlichen Disziplinen, der Psychologie, der Soziologie, der Medizin etc. zur Absicherung unserer eigenen planerischen Arbeit zusammenzutragen.

  3. INNENRAUM ALS KÜNSTLERISCH DARGESTELLTER (GESCHAFFENER) RAUM

    1. Illusionistische Darstellungstechniken, die mittelbar Innenraum-Erlebnisse in uns erzeugen können

      1. Graphik:
        die zeichnerische Darstellung eines Innenraumes mit Hilfe von Punkten, Linien und Flächen in Überschneidungstechniken. Fluchtpunkt- und Parallelperspektiven, Darstellung von hell/dunkel-, klar/unklar-, körnig/glatt- Übergängen (z.B. eine Carcer-Zeichnung von Piranesi) etc.
      2. Malerei:
        die farbige Darstellung eines Interieurs durch Luft/Licht-Perspektive, Farbperspektive und zusätzliche graphische Mittel (z.B. eine Stube von Vermeer van Delft)
      3. Plastik:
        die Anlage von Hohlräumen in einer durchgestalteten plastischen Masse, meist nicht begehbar (z.B. eine Block-Gruppierung von Fritz Wotruba, welche schließlich monumental vergrößert wird, die Kirche in Mauer bei Wien)
      4. Film:
        Bildabläufe, die ein Innenraum-Erlebnis als Vorgang zeigen. Die Innenraum-Vorstellung setzt sich sukzessive im Betrachter zusammen. (z.B. das Palais Wittgenstein im Experimentalfilm "Hallo")
      5. Musik:
        Illusion eines umfassenden Raums durch Musik und akustische Medien (z.B. Stockhausens Musiken für Osaka)
      6. Literatur:
        Innenraum /Leerraum-/Zwischenraum-Darstellung durch geschriebene oder gesprochene Texte (z.B. Begehbare Texträume von Franz Mon)

    2. DER INNENRAUM DER ARCHITEKTUR
      Der architektonische Innenraum wird als elementares Gestaltungziel aller Entwürfe definiert. Der Innenraum in einem Bauwerk oder im Stadtraum ist unmittelbar gegebene und erlebbare Realität (also nicht nur illusionistisch repräsentiert). Er ist eines der wichtigsten Definitionsmerkmale von Architektur gegenüber anderen Künsten. Seine Qualität ist so eigenartig, daß er nicht exakt (d.h. mit allen seinen Qualitäten) wiedergegeben werden kann. Alle versuchten Darstellungen (Zeichnungen, Malerei, Modell, Film, Text) sind unzureichend: er umgibt den Menschen und steht ihm nicht (nur) gegenüber.

      Das Seminar schließt mit der Frage ab, was der spezifische Gegenstand der "Innenarchitektur" sei. Gibt es einen solchen? Oder ist etwa ALLE Architektur "Innenarchitektur"?