Wolfgang Meisenheimer

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Architektur für die Sinne

Dokumentation von zwei Seminaren zu Fragen der Architekturtheorie, veranstaltet im Lehrgebiet "Grundlagen des Entwerfens" (Prof. Dr. Wolfgang Meisenheimer) durch den Fachbereich Architektur der Fachhochschule Düsseldorf in Gnadenthal (1991) bzw. Kronenberg (1990)
 
Inhalt:

Wolfgang MeisenheimerEinführung in den Themenkreis
Wolfgang BaßlerVom Sinn der Sinne
Friedrich Christoph WagnerKörpererfahrung und Kreativität
Clara SaalBerauschendes, Beruhigendes - Vom Zauber der Materialien, vom Zauber des Lichts
Wolfgang MeisenheimerApokalyptische Architektur
Ulf Jonak Stoffwechsel
Christian W. Thomsen (unter Mitarbeit von Angela Krewani, George Bathe, Pamela Dube und Dietmar Ness)Architektur und Erotik
Rolf LinkArchitektur für die Sinne - Details für Hände, Füße, Ohren, Augen....
Wilfrid JochimsGrenzbereiche der musikalischen Raumdiskussion
Burkhard Gottschalk DOGON - Häuser, Architektur als Körper

 

Referenten- Verzeichnis:

Dipl.-Ing. Lehmbrock, Architekt, Publizist, Düsseldorf, Dipl.-Ing. Olaf Jacobsen, Architekt, Düsseldorf, Dipl.-Ing. Kurt Schmitt, Städtebauer, Direktor des Planungsamtes der Stadt Düsseldorf, Prof. Dipl.-Des. Hans-Ulrich Bitsch, FHD, lehrt "Möbel und Produktentwicklung" und "Designmethodologie", Dipl.-Ing. Dieter Blase, Ges.Int. Bauaustellung Emscherpark GmbH, Gelsenkirchen, Alfred Brinkhaus, Dipl-Ing. Architekt, Prof. Dr. Hans-.Georg Pfeiffer, FHD, Fb Design, lehrt "Kunstgeschichte".



Einführung in den Themenkreis

Was hat Architektur mit Sinnlichkeit zu tun?
Was ist dabei „Sinnlichkeit“, was ist „Architektur“?

Ich gehe davon aus, daß sowohl das Erlebnis von Architektur als auch ihre Planung und Herstellung von „sinnlicher Erkenntnis“ ebenso abhängig ist wie von „denkender Erkenntnis“. Beide Arten von Erkenntnis, sinnliche wie ideenhafte, sind voneinander abhängig. Zunächst möchte ich an einige Schulweisheiten erinnern, insbesondere an definitorische Unter- scheidungen.
 

Arten von Sinnen, Sinnesorgane

Unter den fünf „klassischen“ Sinnen Sehen, Hören, Riechen, Schmecken, Tasten sind vier spezielle (ihnen sind bestimmte Organe gewidmet: die Augen, die Ohren, die Nase und der Mund) und ein allgemeiner (er ist über den ganzen Körper verteilt: der Tastsinn). Darüber hinaus spielen andere sinnliche Organstrukturen eine bedeutende Rolle beim Aufbau von Wahrnehmungswelt und Körpergefühl: der Gleichgewichtssinn, der Schmerzsinn, der Temperatursinn und andere wenig erforschte „Orientierungssinne“. Jeder dieser Sinne verfügt über spezifische Rezeptorzellen, die jeweils besondere Reize aus dem Umweltraum aufnehmen und über ein hochdifferenziertes Nervensystem als elektrochemische Information an bestimmte Teile des Gehirns weitergeben. Dabei „achten“ bestimmte Rezeptoren nur auf bestimmte Reize oder Reizkombinationen; in den Augen sind die Rezeptoren für Parallität zum Beispiel andere als die für Farbperspektive; auf der Zunge sind die Rezeptoren für sauren Geschmack andere als die für Süße usw. Für die vitale Entwicklung und Fortpflanzung des Menschen sind sicher die „Nahsinne“ Riechen, Schmecken und Tasten von elementarer Bedeutung. Die soziale und kulturelle Entwicklung der Menschheit ist dagegen auffallend wenig von diesen Nahsinnen, umso mehr aber von den Fernsinnen Sehen und Hören abhängig. Die instrumentelle Fähigkeit der Augen und Ohren wurde durch die Geschichte der Zivilisation nicht nur in erstaunlicher Weise herausgefordert und weiterentwickelt; ein großer Teil des technischen Arsenals der Kultur kann als Prothesen- Angebot für Augen und Ohren verstanden werden: vor allem hat sich der Mensch durch Bewältigung großer Distanzen zwischen sich und der Umwelt entwickelt. Inzwischen berührt er kaum noch die Dinge und die Mitmenschen um sich; seine Nase hat kaum noch kulturelle Aufgaben; aber ohne jede zeitliche Verzögerung sieht er und hört er die Ereignisse auf der anderen Seite der Erde, ja im kosmischen Raum. Kunst, Politik und Wirtschaft benutzen mehr und mehr die Medien der Kommunikation über gigantische Abstände. Die Kultur der Nahsinne geht dabei eher verloren.

Die sinnliche Erkenntnis der Welt hängt allerdings vom ganzheitlichen Einsatz mehrerer Sinne ab, nie von einem einzigen Organ. Der ganze Körper ist das Wahrnehmungs- und das Ausdrucksorgan für die erkennende „helle“ Weltzuwendung sowie für den Aufbau des eigenen, „dunkeln“ Körpergefühls. Das Fuktionieren der einzelnen Sinne wird erst aus einem größeren Bedeutungszusammenhang heraus sinnvoll, bei dem sowohl die verschiedenen Sinnessysteme als auch die verschiedenen „Arsenale innerer Bilder“ (Erinnerungen, Ideen, Erwartungen) beteiligt sind, die bei den Wahrnehmungsvorgängen ständig miteinander verglichen werden. So entsteht für den wahrnehmenden, sich erinnernden und denkenden Menschen eine Art „Zwischenwelt“ zwischen den Objekten in seiner Umgebung und seinem Ich. Diese Zwischenwelt aber ist die Welt des Menschen, die er mit großer Sicherheit um sich herum wiederfindet (obgleich nicht zwei Augen- Blicke gleich sind!), die er verändern und behalten kann. Die erstaunlichste Erfahrung der Wahrnehmungspsychologie der letzten Jahrzehnte ist die Einsicht, daß sinnliche Erkenntnis sowohl bei einzelnen Wahrnehmungsvorgängen als auch bei großen Erlebniszusammenhängen kompositorisch, d.h. gestaltend verfährt: aus den äußeren Reiz- Daten der Sinne und den inneren Vergleichsmaterialien des Gehirns entsteht die Welt des Menschen als „Vorstellungs- Konstrukt“- und das nie ohne bedeutungsvolle Anordnung, d.h. ohne Sinn.
 

Anmerkungen zur (Kultur-) Geschichte der sinnlichen Erkenntnis

In magisch- mythischen Zeiten war ein ganzheitlich- komplexes Weltverständnis wohl selbstverständlich, bei dem Dinge und Gefühle, Vorgänge und Vorstellungen, Fakten und Erwartungen etc., kurz: Außen- und Innenwelt nicht in dem Maß voneinander getrennt waren wie wir das umgekehrt heute für selbstverständlich halten. Alten Darstellungen zufolge wurden etwa das Feuer und das Sehen, die „obere“ Luft und das Gehör, die „untere/dichtere“ Luft und der Geruch, das Wasser und der Geschmack, die Erde und das Tasten identifiziert. Auch waren Welterkenntnis (Welt- Raum) und Körpergefühl (Körper- Raum) nicht klar voneinander getrennt. Der Vorgang dieser Trennung aber, der Schnitt zwischen Welt und Ich scheint die Haupttendenz der kulturellen Entwicklung seit der griechischen Antike zu sein. (Demokrit trennte schon „echte“ Erkenntnis, d.i. das denkende Unterscheidungsvermögen, von „dunkler“ Erkenntnis, d.i. die Wahrnehmung durch die fünf Sinne). Die Entwicklung der Denk- und Arbeitsmethoden der Renaissance und des Humanismus in Europa ist beschreibbar als zunehmende und methodische Trennung von Welt und Dingen einerseits und Sensorium, Vorstellung, Erinnerung und Gefühlen des Ich anderseits. So wurde Wissenschaft mehr und mehr der Dokumentation und Analyse der Fakten, Kunst dagegen mehr dem Ausdruck des Ich zugeordnet. In diesem Sinne wurde die Weltsicht zunehmend divisionistisch.

Dabei übernehmen die Instrumentarien der Entfernungssinne (Auge und Ohren sowie ihre Geräte- Hilfen) die Führung. Empfindungen, Gefühle, Erinnerungen sowie das spontane sinnliche Erleben konkreter Situationen werden durch Techniken der Übertragung, der Verwandlung, Übersetzung und Vermittlung von der „Wirklichkeit“ gelöst. Die großartige kulturelle Leistung bei dieser Darstellung und Verarbeitung der Distanzen ist die Erfindung und die Ausarbeitung der vielen Zeichensysteme, die die Welt in ein Kommunikationssystem verwandeln, in eine Welt der totalen Austauschbarkeit, sie hat durch und durch „Sprach- Charakter“. Gleichzeitig zeigt sich das Bedrückende dieser Entwicklung: die Begegnung der Menschen mit ihrer Welt ist immer weniger spontan, sie kann unmittelbare Berührungen kaum noch verkraften: sie muß die Intimität, die Kraft und Schönheit der unmittelbaren Handlung vermeiden, sie wird „unfähig“ in der Nähe....

Besonders an den Grenzen verschiedenartiger Kulturkreise werden wir stutzig: wir bemerken (z.B. bei Reiseerlebnissen) unsere eigenen Sprachschwierigkeiten bei der Verständigung selbst über die einfachsten Wahrnehmungen und Empfindungen. In verschiedenen Kulturkreisen herrschen offenbar spezifische Konventionen zum Gebrauch der Sinne, d.h. Wahrnehmungen, Erinnerungen und Ideen werden in einer Weise aufeinander bezogen, über die man einiges lernen und wissen muß. Zu den Besonderheiten einer Kultur gehören nicht nur Produkte (Speisen, Moden, Kunstwerke etc.), sondern auch spezifische Gewohnheiten im Umgang mit den Sinnen. Eine „Kulturgeschichte der sinnlichen Erkenntnis“ wäre noch zu schreiben. Nachdem J.W. Goethe mit besonderer Aufmerksamkeit Wahrnehmungsvorgänge als Erkenntnisvorgänge beschrieben hat (besonders in seinen Morphologien der Farben, der Pflanzen, der Knochen, der Mineralien etc.) gibt es in neuerer Zeit besonders bei R. Steiner vielerlei Anleitungen, durch sinnliche Erkenntnis von Natur und menschlichem Körper zu einer neuen Sicht des Verhältnisses von Kunst und Wissenschaft vorzustoßen. N. Elias kommt zu einem Konzept der Geschichte der Zivilisation, indem er die typischen Verwandlungen beim Gebrauch der Sinne im Alltagsverhalten bestimmter kultureller Gruppen vom Mittelalter bis in die Neuzeit analysiert. H. Kükelhaus hat in seinen pädagogischen Maximen (besonders für Kinder) das Training der sinnlichen Erlebnisfähigkeit betont. E.T. Hall hat versucht, in „proxemischen“ Studien die kulturellen Eigentümlichkeiten im Verhalten des menschlichen Körpers im Raum festzuhalten und dadurch größeres Verständnis für die Besonderheiten fremder Kulturkreise zu wecken. J. Gebser hat in seiner „Philosophie der Begegnung“ von Ost und West auf vielerlei Phänomene der sinnlichen Erkenntnis- Traditionen aufmerksam gemacht. M. Putscher meint, im Wechsel der Kulturgeschichte eine Art Periodizität von Versinnlichung und Abstraktion, d.h. einen Wechsel von Zuwendung zur Realität und Abwendungen von ihr festzustellen.

Besonders aber die moderne Kunst bietet sich an als „Versuchslabor“ für den Gebrauch der Sinne. Eine Fülle von stimulierenden und lehrreichen Arbeiten präsentiert neuartige Fragen und Antworten zur sinnlichen Erkenntnis. So bringen Plastiken (z.B. bei R. Serra, K. Rinke, J. Beuys), Bilder (z.B. bei A. Tapiés, E. Schumacher), Bühnenbilder (z.B. bei A. Freyer), Tanzstücke (z.B. bei P. Bausch) und musikalische Kompositionen (z. B. bei K. H. Stockhausen) „Sensationen“ für die verschiedensten sinnlich- geistigen Apparate des Menschen hervor. Nie gekannte Wahrnehmungen werden mit Ideen verknüpft, d.h. „sinnvoll“ erlebbar gemacht. Die Arbeiten solcher Kunst kommen dem unstillbaren Verlangen der Menschheit nach Neuem entgegen.
 

Der Weg zu einer neuen Architektur für die Sinne

Sinnliche Erkenntnis ist nur in ihren Grunddisposition naturgegeben, dagegen in ihrer konkreten Ausprägung kulturabhängig. Der Gebrauch der Sinne ist auch durch Architektur manipulierbar! Wir brauchen starke und veränderliche Sinnesreize, darunter auch widersprüchliche, und wir brauchen die sinnvolle Verknüpfung bestimmter Sinnesreize mit bestimmten Ideen, Erinnerungen, Wünschen usw.! Das bedeutet: wir müssen gegen die Rationalität der Architektur JENSEITS der Sinnlichkeit eintreten und gegen die Interpretation des Weltzusammenhanges als bloßes Zeichensystem. (Die „totale Semiotik“ war ein Irrtum der 60er Jahre!). Die Moderne als Zeitalter der Ingenieur- Vernunft (die im tieferen Verständnis nie existierte - auch in den „klassischen“ 20er Jahren nicht) muß überwunden werden.

Wir beobachten in der Entwicklung „postmoderner“ Phänomene - auch in der Architektur -: der subjektive Anteil der Erkenntnis wächst, etwa die Erinnerung, die Erfahrung, die aktive Rolle des Körpergefühls, d.i. die „dunkle“ Welt der Empfindungen. Ein freier Gebrauch des Gefühls wird immer stärkeren Einfluß haben auf die Produktion der neuen Welt. Die verschiedenen Schichten von Gedächtnis (auch „Geschichte“, verstanden als kollektives Gedächtnis) werden bei den Prozessen der Kreativität eine entschieden anspruchsvolle Rolle spielen.

Die „neuen Räume“ sind zunehmend durch die Erfahrung des ganzen Körpers als Organ bestimmt. Der architektonische Raum muß als „Gesamtkörperwelt“ zur Identifikation auffordern. Das Körpergefühl der neuen Zeit hat die komplizierten Raum- Zeit- Phänomene, (Zeit- Rhythmen, Schwebegefühle, Bewegung im freien Raum, rauschhafte Steigerung, aber auch Höhlensehnsucht, Naturverlorenheit, triviale Utopie etc.) in seine Determinanten aufgenommen. Sie werden eingehen in die zukünftige Darstellung der Szenerie des Lebens! So wird eine neue Architektur - entsprechend einer neuen Sinnlichkeit - in Spannungen aufgebaut sein zwischen Spontanität und Abstraktion, Intimität und Distanz, persönlichem Erlebnis und sozialer Erfahrung. (Die Redeweise von „Postmoderne“ ist dabei unnötig). Die Balance einer neuen Moderne aber kann nicht entwickelt werden ohne das Auswägen dieser zwei gegenläufiger Strategien. Auf der einen Seite steht die Notwendigkeit, Ordnungsschemata zu finden, Grundfiguren, archetypische Merkmale, Konstanz- Phänomene (oder besser Ideen) zu bestimmten. Auf der anderen Seite brauchen wir drastische Sinnlichkeit, Vielfalt und Kontraste der Wahrnehmung sowie der Empfindung, eine neue Oberflächenkultur etc., insgesamt: überwältigende Angebote für die Szenerie des Leibes!

Architektur zum Zwecke

Dokumentation von zwei Seminaren zu Fragen der Architekturtheorie, veranstaltet im Lehrgebiet "Grundlagen des Entwerfens" (Prof. Dr. Wolfgang Meisenheimer) durch den Fachbereich Architektur der Fachhochschule Düsseldorf in Gnadenthal (1991) bzw. Kronenberg (1990) 

Inhalt:             

 

Wolfgang MeisenheimerEinführung in den Themenkreis
Kurt SchmidtBesitzer, Nutzer, Passanten und Steuerzahler - das Karussell des “Gebrauchs“ in der Architektur
Dieter BlaseIBA Emscherpark: Funktion, Funktionalismus, Funktionalisierung der Emscherregion
Josef LehmbrockFunktionalismus ist nie überholt. Die politische Dimension der Architektur
Olaf JacobsenDas Wirtschaftswunder; Die Zweckarchitektur der Nachkriegszeit

Referentenverzeichnis:

Prof. Dr. Wolfgang Baßler, Dipl. Psychologe, Psychoanalytiker, Köln/Bonn, Prof. Dr. Friedrich Christoph Wagern, FHD, lehrt "Grundlagen der Gestaltung", Prof. Clara Saal, FHD, lehrt "Entwerfen Innenarchitektur" und "Grundlagen der Möbelkonstruktion", Prof. Ulf Jonak, Univ.-Gesamthochschule Siegen, FB Architektur, lehrt "Grundlagen der Gestaltung", Prof. Dr. Christian W. Thomsen, Univ.-Gesamthochschule Siegen, FB Sprach- und Literaturwissenschaften, Anglistik, Dipl.-Ing. Rolf Link, Architekt, Köln, LB FHD, Prof. Wilfrid Jochims, Musikhochschule Köln, lehrt "Gesang" und "Phonetik", Burkhard Gottschalk, Sammler, Afrikakenner, Düsseldorf, Prof. Dr. Wist, Physiologisches Institut, Univ.Düsseldorf.      

 

Einführung in den Themenkreis des Seminars 1990

Bevor ich einen Abriß der Geschichte ,,funktionalistischer Architektur-Theorien“ versuche, lege ich Wert darauf, zunächst an zwei oder drei konkreten Beispielen grundlegende Phänomene zum Themenkreis ,,Funktionalität“ aufzuzeigen:   

  1. ,,Stuhl“ (Nutzungsdemonstration, Erörterungen zum Leib-Zusammenhang (mit kultureller Variation, Gewohnheiten, Wertgefühlen etc.),   

  2. ,,Stehender Zylinder“ (seine Verwandlung -durch eine morphologische Reihe - in einen Fabrikschornstein einerseits / in das römische Pantheon andererseits)  

  3. ,,liegender Zylinder“ (seine Verwandlung -durch eine morphologische Reihe - in ein technisches Rohr einerseits / in einen Löffel andererseits).

Es zeigt sich, daß die ,,Funktions-Momente“ nicht für sich, d.h. unabhängig von Formqualitäten, also Raum-Strukturen ablesbar sind. ,,Funktion“ ist keine Ding-Eigenschaft wie die Qualitäten ,,rot, blau, rund, schwer usw.“, sie ist vielmehr relationaler Art, d.h. sie meint das Verhältnis einer ästhetisch/technischen Form zu einem möglichen Gebrauch. ,,FunktionaIität“ bezeichnet nicht Ding-Merkmale, sondern Ding-Merkmale in Verbindung mit dem Verhalten von Menschen. Das (mit dem Ding) gemeinte Verhalten kann entweder durch praktische Zweck-Handlungen, durch ideenhafte symbolische Einstellungen oder durch beides bestimmt sein. Deshalb ist es sinnvoll, praktische von ideeller Funktionalität oder auch ,,erste“ von ,,zweiten“ Funktionen zu unterscheiden (wie auch U. Eco das in seiner Zeichentheorie vorschlägt). Erste Funktionen meinen den praktischen Gebrauch, die Nutzung der Dinge, zweite Funktionen ihren Sinn, ihre ideellen Bedeutungen.

 

Zur Genealogie ,,funktionalistischer” Architekturtheorien

Bei Vitruvius Pollio (Decem Libri) ist Brauchbarkeit/ Zweckmäßigkeit eine der drei Grundkategorien, die den Charakter eines Bauwerks bestimmen: ,,firmitas, utilitas, venustas“. Utilitas ist gegeben, wenn etwa ,,die Anordung der Räume fehlerfrei, ohne Behinderung für die Benutzung, den Himmelsrichtungen angepaßt und zweckmäßig“ ist. Leon Battista AIberti (1404-72, De raedifictora) schließt sich an und sagt sogar, Architektur sei aus der utilitas entstanden. Indem er drei Arten von Zwecken zu unterscheiden versucht (necessitas, etwa Eignung für die Notdurft des Lebens; opportunitas, etwa Zweckmäßigkeit allgemein; voluptas, etwa Eignung für zeitweiliges Vergnügen) spielt die Differenzierung der Tauglichkeit für verschiedenartige Lebensformen die entscheidende definitorische Rolle: eine erste Vorwegnahme moderner Positionen des Funktionalismus! In der Wahl bestimmter Arten von Zweckmäßigkeit zeigt sich menschliches Leben als kultiviert, d.h. an Traditionen gebunden und über bloßen praktischen Gebrauch hinausgehend. Die sozialpolitische Dimension der Architektur ist damit schon angesprochen.

Francis Bacon (1561-1626) (,,houses are built to live in, not to look at“) reduziert als Naturwissenschaftler das Brauchen auf bloße Zweckzusammenhänge. Er argumentiert als reiner Utilitarist und verhöhnt die symbolische Steigerung der Bedeutungen (z. B. bei Dürers Proportionslehre nach dem Bild des menschlichen Körpers) als Possenmacherei, - das ist die frühe Vorwegnahme eines ,,platten” Funktionalismus, der auf Brauchfunktionen reduziert. Guarino Guarini (1624-83) sagt zwar auch, ,,Arichtektur sei eine kontrollierbare Wissenschaft“, besteht aber darauf, daß auch den Sinnen geschmeichelt werden müsse, wobei sowohl individuelle Bedürfnisse als auch Landesgewohnheiten eine Rolle zu spielen hätten. Zu Beginn der Neuzeit stellt Viollef-Ie-Due (1824-1879) systematisch zusammen, welche funktionalen Faktoren Einfluß haben auf die Bestimmung einer gebauten Form: Materialien, Baukonstuktion, Tragwerk, Nutzung, soziale und kulturelle Aufgaben (etwa historische Bezüge) etc. Er formuliert wie ein Vorläufer des differenzierten Funktionalisten Sullivan. Gottfried Semper (1803- 1879) versucht gleichzeitig eine erste Typologie der symbolischen Funktionen. Architektur erwachse zwar aus Bedürfnissen, aber sie habe auch die Aufgabe, in ihrer jeweiligen Kulturlandschaft ausdrucksvoll zu sein. Die architektonischen Ausdruckssprachen aber beruhten auf vier materialen Grundtypen, denen verschiedenartige ideelle Symbolsysteme zugeordnet wären: Ton, Holz, Textil, Stein. Aus dem Historismus des 19. Jahrhunderts versuchten die frühen englischen und amerikanischen Funktionalismus- Bewegungen, zu Formen der Moderne zu finden.

So lenkte z.B. Richard Lethaby (1857-1931) die Aufmerksamkeit auf die Notwendigkeit, einfache Lebensbedürfnisse zum Ausgangspunkt moderner Gestaltung zu machen. In (romantischen) Annäherungen an mittelalterliche For-men versuchte man, zu einem neuen ,,Natur“-Begiff vorzustoßen, der die Grundlage der Moderne darstellen könnte. In der Schule von Chicago, etwa bei Louis Sullivan (1856-1924) wurde diese Suche nach einem neuen ,,Natur“-Begriff stärker technisch-naturwissenschaftlich interpretiert, ohne daß man einen gewissen Mystizismus überwand: ,,Gods world has a distinct formula for every function!“ Das Funktionsprinzip wird quasi als göttliches Schöpfungsprinzip interpretiert. Praktische Funktionen vor allem müßten die Grundlage der Form sein, allerdings solle die Form ihre Funktionen auch ausdrücken. So war der berühmte Slogan ,,form follows function“ durchaus nicht als Verführung zu flacher Formbestimmung aus Gebrauchszwecken gemeint. Hermann Muthe-sius (1861-1927), einer der bedeutendsten Begründer des Deutschen Werkbundes, hat die Aufmerksamkeit besonders auf Funktionsfragen im Sinne der Herstellungsproblematik (Handwerk oder Industrie, Maschine oder Handwerk) gelenkt und dadurch eine Spaltung des Deutschen Werkbundes in zwei ideelle Lager heraufbeschworen, die besonders beim sogenannten ,,Typenstreit“ während der Werkbund- Ausstellung 1914 in Köln zum Ausdruck kam. Die eine Gruppe sah die Notwendigkeit typisierter Formen, um die Bedürfnisse der industriellen Massengesellschaft international zu befriedigen; die andere hielt an der eher künstlerischen Aufgabe der Entwerfer fest, die eine ,,allgemein menschliche künstlerische Ausdruckssprache“ zu entwickeln hätten, - eine individualistische, nur scheinbar apolitische Einstellung. Der 1. Weltkrieg zerschlug den hohen Stand der Funktionalismus-Diskussion von 1914, die erst mit den Kontroversen über typisierte Bauformen um Walter Gropius (1883- 1963) und Hannes Meyer (1989-1954) im BAUHAUS bzw. die internationale Diskussion in den C.I.A.M.-Kongressen, (niedergelegt u. a. in der ,,Charta von Athen“ 1933 von Le Corbusier formuliert) wieder aufgegriffen wurde. Die Analysen und Thesen zur Funktionalität der Architektur, wie sie in der frühen, (,,klassischen“) Moderne formuliert wurden, beziehen sich durchweg auf Idealvorstellungen des modernen Menschen, dessen Lebensformen weitgehend unabhängig von den Besonderheiten der Kulturlandschaft, vielmehr ,,menschheitlich“ und weltweit gleichartig gedacht wurden (trotz der Bemühungen etwa Le Corbusiers um empirische Analysen in vielerlei Städten der Erde).

Vielleicht hat dieser ,,weltbürgerliche“ (aber ortsfremde) Zug der klassischen Moderne mit dazu beigetragen, daß faschistische Herrschaftsarchitektur (in Deutschland etwa Speers Bauten für Hitler) auf emotionaler Ebene versuchen konnte, durch die Imitation von historischen Leitbildern (Klassizismus) einerseits und Volkstümelei andererseits die Wirkung von Architektursprache auf große Massen zu erproben. Selbst die erste bedeutende Position der Postmoderne, der Rationalismus der Venezianischen Schule etwa bei Muratori, Aymonino und Aldo Rossi war deswegen so wirkungsvoll, weil mit der Forderung nach typologischen Standards die Aufforderung verbunden war, diese typologischen Standards, d.h. die Grundformen des Entwerfens, im vorhandenen Material der Geschichte zu suchen und zwar jeweils konkret in der vorgefundenen Kulturlandschaft. Die ,,Formen des Brauchens“ sollten nicht bei jeder Bauaufgabe neu bestimmt werden, vielmehr -befreit von den wechselnden Zufällen des Alltags - im Bewährten, im Formenschatz der Geschichte, der als Entwurfs-Arsenal zur Verfügung steht - das allerdings nicht in Zufallsformen, vielmehr im Typischen. Diese Verweisung auf den Wert der (versteinerten Erfahrung der) Geschichte ist in der Folge besonders in Amerika verhängnisvoll übersteigert worden. Typologie als Entwurfsmethode ist verkommen zur Freigabe der plattesten Imitation und Adaption: zum ,,Architektur-Theater“ (Venturi, Moore etc.). Im Design erscheint die Abkehr von den strengen Standards der frühen Moderne, der ,,Werkbund- ldeologie“ usw. und die Hinwendung zu den Besonderheiten individueller Phantasie und historischer Fundstücke besonders radikal (Memphis, Ettore Sottsass u .a..). 

 

Ideen zur Bestimmung der Jetzt-Position

Drei verschiedene Einstellungen zu Fragen der Funktionalität scheinen augenblicklich in Architektur und Design unversöhnlich, fast ohne Querverbindung, nebeneinander zu stehen:   

  1. individualistischer Formalismus (späte Postmoderne), Aussagen über Funktionalität spielen dabei eine nebensächliche Rolle - oft nur metaphorisch,   

  2. die Suche nach einer architektonischen oder Design-Sprache, nach typologischen ,,Standards“. Praktische und Ideelle Nutzung sollen nicht nur durch individuelle Erwartungen gestützt sein, sondern durch die Bedürfnisse breiterer Gesellschaftsschichten,  

  3. ökologischer Funktionalismus mit technischer und/oder sozialpolitischer Orientierung. Fragen des sozialen Gebrauchs sind dabei von wesentlichem Interesse, Fragen der formalen Gestaltung werden dagegen als unwesentlich, ja überflüssig und irrelevant betrachtet.

Zum Schluß erlaube ich mir einige Bemerkungen und Thesen zum Umgang mit diesen aktuellen Einstellungen und damit zur Aufgabe des Seminars.

Die Diskussion über Funktionalität in Architektur und Design ist deshalb so schwierig, weil sie sich nicht nur auf Objekteigenschaften bezieht, die isolierbar, beschreibbar und darstellbar sind, sondern immer zugleich auf das Verhalten von Menschen, das sich sowohl in praktischen Handlungen als auch in ideellen Einstellungen ausdrückt. Und diese relationalen Gefüge sind eben mit ihrer Verquickungen von Mensch und Dingwelt kaum angemessen darstellbar. Zum mindesten versagt das Verständigungsmittel des Architekten, die Zeichnung.

Bei der Einkreisung des Themas sind wohl zwei Blickrichtungen unausweichlich. Einerseits muß die Analyse von Nutzungs- und Bedeutungssi-tuationen sich auf das BESONDERE dieser Situation einlassen, d.h. auf die jeweils konkrete Konstellation der Bedürfnisse ,,hier und jetzt“ unter Berücksichtigung der individuellen/sozialen/kulturellen Eigenheiten eines Menschen, einer Nachbarschaft, einer Landschaft usw. . . . Andererseits muß die Analyse auch auf TYPISCHE STRUKTUREN dieser Situation gerichtet werden: was darin ist von allgemeiner, beständiger, vielleicht sogar universeller Art? Irenäus EibI-Eibesfeld (Der vorprogrammierte Mensch, 1973) hat zum Körper-Verhalten des Menschen, Orientierungsbewegungen, Signalbewegungen usw. festgestellt, daß einige Grundstrukturen dieses Verhaltens genetisch vorgeprägt sind und als ,,universelle Motivationsstrukturen“ viele Äußerungen mitbestimmen. Andererseits steht fest, daß die Geschichte der Menschen (vergl. Norbert Elias, Über den Prozeß der Zivilisation, 1936) gerade die Abwandlung und Nuancierung dieser ,,Standards“ ist. Beides aber, das Interesse für das Besondere einer Brauch-Situation und das für das Allgemeine und Typische in ihr sollte nicht nur für die Analyse, sondern auch für die Synthese/die Erzeugung/ den Entwurf gelten!   

  • Die Dimensionen der Brauchbarkeit gehören immer zum Ausdruck der gebauten Dinge. Sie zeigen die Bindung der Architektur an menschliches Verhalten: sie ermöglichen sein praktisches Handeln, und sie stellen seine Einstellung zu ideellen Bedeutungshintergünden dar.   

  • Architektur sollte jeweils konkret eingehen auf den Nutzungsbedarf in einer besonderen Situation; aber insbesondere das Allgemeinverständliche, Typische macht die Architektur zu einem Mittel der Verständigung, zu einer ,,Sprache“.   

  • Gibt es funktionslose Formen? - Ja, die gebauten Dinge sind nicht durch und durch funktionalisiert. Es gibt einen gewaltigen sinnlichen Formenüberschuß, der nicht ,,zu etwas” da ist.