Wolfgang Meisenheimer

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Architektur als Darstellung, als Zeichen, als Sprache

Dokumentation eines Seminars zu Fragen der Architekturtheorie, veranstaltet im Lehrgebiet Grundlagen des Entwerfens (Prof. Dr.-Ing. Wolfgang Meisenheimer) durch den Fachbereich Architektur der FH Düsseldorf im SS 1989 in Rolduc (Holl.)

Inhalt:

Wolfgang MeisenheimerEinführung in den Themenkreis
Christian W. Thomsen, Angela Krewani (unter Mitarbeit von Georg Bathe)Was ist in der Architektur Sprechen, Sprache, Dialekt?
Dieter Fuder Architektur im konstruktiven Dissens. Dekonstruktive Sprachspiele
Martina DobbeEklektizistische Architektursprachen? Zur Semiologie des Zitats in der Architektur
Ulf Jonak Auch die Moderne braucht Zeichen der Erinnerung
Jürgen Pahl Die Rolle der Kybernetik in der Architekturtheorie der sechziger Jahre und dreißig Jahre danach
Jochen BoskampArchitektur ist keine Sprache (sondern ein Zeichensystem...)
Dietmar StadtlerArchitektur als Ausdruck eines individuellen Menschen ("soul box")

Referenten- Verzeichnis:

Dipl.-Ing. M.A. (USA) Peter Riemann, freier Architekt, Walter Gebhardt, Dipl.-Ing. Architekt, Prof. Arno W. Oppermann, Gesamthochschule Wuppertal, lehrt "Grundlagen der Gestaltung", Prof. Dipl.-Ing. Niklaus Fritschi, FHD, lehrt "Darstellungstechniken", "Baukonstruktion" und "Entwerfen", Prof. Heiner Hoffmann, Gesamthochschule Wuppertal, lehrt "Zeichnen", Prof. Dipl.-Ing. Jürgen Schroeder, FHD, lehrt "Grundlagen des Entwerfens", Dr. Bernd Vogelsang, Institut für Theater-Film- und Fernsehwissenschaft, Uni Köln, Prof. Jörg Lensing, Dortmund, lehrt "Ton- und Klanggestaltung",Dr. Dieter Kühn, Schriftsteller, Köln

Einführung in den Themenkreis

"Architektur als Darstellung, als Sprache, als Zeichen-für-etwas" kann als spielerische Umkehrung des Seminar-Themas von 1988 ("Die Darstellung von Architektur") verstanden werden. Zunächst einige einführende Beobachtungen.

Architektur, die etwas ausdrückt, etwas sagt, etwas verrät, die Auskunft gibt über jemand, die uns anspricht, die so aussieht wie ein Gesicht, die uns auffordert, herausfordert, die gedeutet und interpretiert werden kann - solche Erlebnisse lassen Architektur als ein darstellendes Medium, als "Sprache" oder als "Zeichensystem" erscheinen.

Zur Theorie-Geschichte bringe ich einige Erinnerungen an Begriffs-Definitionen der ZEICHEN-THEORIE.
Ein Zeichen ist kein Ding; wesentlich ist, daß es nicht sich selbst bedeutet, auf sich selbst verweist, vielmehr auf etwas anderes... Es ist sinnvoll, drei Arten des Verweises - auf- etwas (also "Zeichen") zu unterscheiden; Indices, Ikone und Symbole. Das indexikalische Zeichen zeigt Merkmale, die auf Ursachen verweisen (wie der Rauch auf das Feuer); die ikonischen Zeichen erinnern an etwas durch bestimmte Bild-Ähnlichkeiten (wie eine Fassade an ein Gesicht); die symbolischen Zeichen sind willkürlich mit einem gemeinten "Inhalt" verknüpft (z.B. die Verkehrsschilder mit dem geforderten Verhalten).

Alle drei Zeichen-Charaktere kommen in der Architektur vor. Die Zeichentheorie (z.B. bei Chr. S. Peirce) erklärt, wie die Untersuchung solcher Zeichenrelationen sich auf drei Ebenen des Diskurses bewegen kann. Sie kann sich erstens auf die Mittel beziehen, aus denen das Zeichen zusammengesetzt ist, die Materialien, Formen etc. (Syntaktik). Sie kann sich zweitens auf Bedeutungsrelationen beziehen, d.h. auf die Frage, was meinen diese und jene Formen? (Semantik). Sie kann sich drittens auf die Rolle der Interpreten und Interpretanten, d.h. der Menschen beziehen, die sich mit Hilfe dieses Zeichens verständigen (Pragmatik).

Diese Unterscheidungs- und Zugangsmöglichkeiten betreffen im allgemeinsten Sinne die Zeichenwelt und helfen zunächst nicht, das Spezifische der architektonischen Zeichen zu definieren. Einen Schritt in dieser Richtung tut U. Eco, indem er erklärt, Architektur teile (scheinbar) nicht ETWAS mit, sondern sie "funktioniere", es sei aber sinnvoll, zweierlei Funktionen voneinander zu unterscheiden: Primärfunktionen (praktische Brauchbarkeit, "DENOTATIVE" Zeichen-Charakteristik der Architektur) und Sekundärfunktionen (mitgemeinte Bedeutungen verschiedenster Art, "CONNOTATIVE" Zeichen-Charakteristik der Architektur).

Bemerkenswert ist in der Geschichte der Zeichentheorie, daß man in der Zeit des positiv und primär technisch verstandenen Funktionalismus der 60er Jahre versuchte, die Eindeutigkeit und Korrektheit der Übertragungsvorgänge herauszuarbeiten, "Störfaktoren" auszuklammern etc. (z.B. nach dem Ansatz von N. Wiener), während man mit dem Beginn der sogenannten Postmoderne umgekehrt versuchte, die Vieldeutigkeit, Komplexität, "Offenheit" etc. der Zeichen-Sachverhalte zu betonen. Spiegelt die Wissenschaftsgeschichte die Architekturgeschichte oder umgekehrt?

Daneben ist die Erinnerung an einige definitorische Unterscheidungen der Sprach-Theorie notwendig. F. de Saussure (Grundlagen der Allgemeinen Sprachwissenschaft, 1913) bestimmte die sprachlichen Zeichen als Relationen von jeweils Bedeutendem zu etwa Bedeutetem: Z.B. meint die Buchstabenfolge BAUM die Vorstellung von einem Baum. Das Besondere der Sprachen als Medien der Verständigung liegt in ihrem SYSTEM-Charakter, sie bestehen aus Elementen (Lauten, Worten, Sätzen etc.), die jeweils in neuen Zusammensetzungen neue Bedeutungen entstehen lassen. Je nach Situation kann der Sprecher dem Hörer durch neue Kombinatorik aus den gleichen Elementen andere und andere Mitteilungen machen. Kulturelle Traditionen sorgen bei der Fülle von Möglichkeiten (in der Zusammensetzung der Elemente) für Verständlichkeit, Angemesenheit der Verwendung usw..

Wenn Architektur etwas wie eine "Sprache" ist, wäre also zu untersuchen:

  1. Gibt es in der Architektur "Elemente", die bei unterschiedlichen Kombinationen den Gebäuden, Ensembles etc. "Neue Bedeutungen" geben?
  2. Gibt es Systeme, auf die die Kombinatorik der Elemente zurückgreifen kann (Grammatik, Syntax)?
  3. Mit welchen Mitteln geht die "architektonische Sprache" auf spezielle Situationen ein? Gibt es dabei orts- oder landschaftsspezifische Eigenarten ("Dialekte", Soziolekte" o. dergl.)?

F. de Saussure hat die Unterscheidung von "parole" und "langue" eingeführt; einmal wird Sprache als die Summe von konkreten, sinnlichen Äußerungen verstanden, einmal als System. "Sprache hat eine sinnliche Grundlage UND eine logische Struktur" (Jaspers).

Die Bildung von "Bedeutungen" durch architektonische Mittel könnte in Analogie zu Unterscheidungen der Sprach-Theorie nuanciert werden. In einem Seminar dieser Reihe haben wir in Düsseldorf versucht, das "Organon-Modell" von Karl Bühler (Die Darstellungsfunktion der Sprache, 1934) für die Architektur nutzbar zu machen (s. ad 2 "Was ist in der Architektur Bedeutung? FH Düsseldorf 1976). Dabei wurden drei Funktionsarten der "architektonischen Sprache" unterschieden: 1. Ausdrucksfunktionen (expressiv), 2. Aufforderungsfunktionen (appellativ) und 2. Symbolisierungsfunktionen (Darstellung von ETWAS). In einer noch nuancierteren Betrachtung wurden in Anlehnung an R. Jakobson (Essay de linguistique générale, 1963) folgende sechs Funktionsarten unterschieden: expressive (Ausdruck), appellative (Aufforderung), phatische (Test), referentielle (Sachbezüge), poetische (künslerisches Novum) und metasprachliche (Sprach-Charakter).

Was nun Ähnlichkeiten und Besonderheiten von Architektur und Sprache betrifft, läßt sich vorläufig zusammenfassen: (linguistische) Sprachen sind primär nacheinander (zeitlich) aufgebaut; Architektur ist primär nebeneinander (räumlich) aufgebaut.

Sprachliche Komplexe sind aus Elementen nach systematischen Regeln zusammengesetzt; sie nehmen bei unterschiedlicher Kombinatorik verschiedene Bedeutungen an. Elemente der Architektur sind nicht eindeutig definiert und sind in verschiedenen Situationen nicht gleichermaßen verfügbar.

Sprachen können mit mehr oder weniger Schärfe, Präsizion usw. benutzt werden, u.a. auch als "Fachsprache" völlig scharf, begrifflich, eindeutig sein. Die "Sprache der Architektur" ist immer unscharf, nie absolut verständlich und eindeutig. Sprache ist immer in hohem Grad abstrakt, stilisiert und von der Lebenssituation abgezogen; sie wird vorwiegend von Augen und /oder Ohren wahrgenommen. Architektur ist immer konkret, sinnlich-materiell und situationsbezogen, sie wird von allen Sinnen wahrgenommen.

Was die Architektur-Position 1989 betrifft, so sind zwei Phänomene gleichermaßen bemerkenswert: die Besinnung auf verläßliche, beständige, möglicherweise "typische" Formen einerseits und das Interesse am Besonderen, Eigentümlichen, Einmaligen eines Ortes bzw. einer Situation andererseits. So erscheint es mir sinnvoll, folgende Thesen zum Ausgangspunkt für unser neues Gespräch über "Architektur als Darstellung, als Zeichen, als Sprache" zu machen:

Die Analyse von "Architektur als Sprache" ist angemessen und hilfreich, sofern wir ihre kommunikativen Eigenschaften bestimmen wollen: Funktionalität, gesellschaftliche, politische, emotionale Wirkungen etc.. Auch die korrekte pädagogische Verständigung über gebaute Dinge und Räume, die Entwurfslehre, Architekturkritik etc. hängen davon ab, Modelle für den systematischen Aufbau der Architektur als nicht-verbale Zeichen-Sprache zu entwickeln. Ohne Typologien mit funktionalen, technischen und gestalterischen Inhalten kommt die Architekturtheorie als Kommunikationstheorie nicht aus.

Die Redeweise von "Architektur als Sprache" versagt dagegen, wenn das Dinghafte, die konkrete Sinnlichkeit des Gebauten gemeint ist: die Einmaligkeit eines Ortes, die Unersetzbarkeit einer Situation. Der unmittelbare physische und seelische Zusammenhang, an dem die konkrete Verwurzelung der Architektur im "genius loci" hängt, im "Hier und Jetzt", bildet - neben dem Sprachcharakter /der Zeichenhaftigkeit - die kostbare andere Hälfte des Materials, aus dem Architektur entsteht. Sowohl bei der Mache als auch bei der Analyse gebauter Dinge und Räume ist aber beides einzubeziehen: das Systematische, Typologische (Architektur als "Sprache") einerseits sowie das Sinnlich-Konkrete andererseits.

Beides muß sogar in ein gewisses Gleichgewicht gebracht werden. Überwiegt z.B. bei einem Entwurf die typologische Prägung, das Begriffliche, so setzt sich die (klassische) Tendenz zur Monotonie durch (s. Rossi). Überwiegt dagegen das Empiristische, die Neigung zur "bloßen Einfügung", so entstehen (romantische) Tendenzen zu Regionalismus, Heimattümelei oder gar Chaotismus. Die eine Haltung kann erstarren in öden Formen des Rationalismus, die andere kann sich verlieren in verworrenen, nichtssagenden Irrationalismen; "Formen der Einwilligung in das Zufällige" (Odo Marquard). Was wir brauchen ist ein mehrschichtiger, ein umfassender KONTEXTUALISMUS, bei dem typologische Kriterien (der "Sprachcharakter der Architektur") eine bestimmte angemessene und auch eingeschränkte Rolle spielen.

Die Darstellung von Architektur

Dokumentation eines Seminars zu Fragen der Architektur-Theorie, veranstaltet im Lehrgebiet Grundlagen des Entwerfens (Prof. Dr.-Ing. Wolfgang Meisenheimer) durch den Fachbereich Architektur der FH Düsseldorf im SS 1988 in Rolduc (Holl.)

Inhalt:

Wolfgang MeisenheimerEinführung in den Themenkreis
Peter RiemannAuch die Darstellung von Architektur ist Architektur. Oder?
Walter GebhardtInkrustation, Hülle, Kleid - Vorformen architektonischer Verkleidung
Arno W. OppermannDie Zeichnung als "offenes Kunstwerk"
Nikolaus FritschiCapriccio, Veduta, Prospettiva usw.- Über die Grenzen der Darstellbarkeit von Architektur
Anesti ZirzirisArchitektur in Filmen (Vorführung von Filmausschnitten mit Kommentaren)
Heiner Hoffmann Die Zeichnung als "kommunikatives Medium"
Jürgen Schroeder Die Architektur-Darstellung bei Wettbewerben - ein Erfahrungsbericht
Bernd Vogelsang Architekturdarstellung auf der Bühne: Neuzeit und Avantgarde 
Jörg Lensing Über den Versuch einer Fortführung der mechanischen Bauhaus-Bühne (Werkbericht)
Dieter Kühn "Ludwigslust", Literaturlesung

Referentenverzeichnis:

Prof. Dr. Christian W. Thomsen, Univ.-Gesamthochschule Siegen, FB Sprach- und Literaturwissenschaften, Anglistik, Angela Krewani, Univ.-Gesamthochschule Siegen, Prof. Dr. Dieter Fuder, Philosoph, FHD, lehrt "Design-Theorie", Martina Dobbe, M.A. Kunsthistorikerin, LB im FB Design der FHD, lehrt "Sprache und Aktion", Prof. Ulf Jonak, Univ.-Gesamthochschule Siegen, lehrt "Grundlagen der Gestaltung", Prof. Dipl.-Ing. Jürgen Pahl, FHD, lehrt "Stadt- und Regionalplanung" und "Stadtbaugeschichte", Dipl.-Ing. Jochen Boskamp, freier Städtebauer und Architekt, Düsseldorf, Dietmar Stadtler, Dipl.-Ing. Architekt, Margit Wagner, Eurhythmistin, lehrt an der Alanus-Hochschule Alfter b. Bonn.        

Einführung in den Themenkreis 

Im Gegensatz zu den Dingen (d.h. den Bauwerken) selbst werden die Darstellungen dieser Dinge (Bauzeichnungen, Modelle, Fotos, Filme etc.) hergestellt als Hilfsmittel zum Zwecke der Verständigung: für den Vergleich, die Bewertung, die Befragung, für die praktische Realisierung, für Information, Erinnerung und vielerlei andere kommunikative Absichten. In diesem Sinne haben also die Darstellungen von Architektur Zeichencharakter, Symbolcharakter, möglicherweise Sprachcharakter, was sich in der Existenz von "Sender-", "Empfänger-" und "Referenten"-Bezügen (d.h. Gegenständen der Mitteilung) zeigt. Sind aber diese Darstellungen erschöpfend charakterisiert als Informationswerkzeuge, d.h. sind sie nichts als Zeichen oder Mittel der Verständigung?

In einer ersten Unterscheidung sind zunächst ANSCHAULICHE (bildhafte, konkrete) von UNANSCHAULICHEN (symbolischen, abstrakten) Darstellungsarten zu trennen.

Anschauliche Darstellungsarten sind:
Skizzen, Vorentwurfs-, Entwurfs-, Ausführungszeichnungen, Details, Isometrien, Perspektiven, Systemzeichnungen, Plotterzeichnungen (CAD), farbige Zeichnungen und Aquarelle, Modelle verschiedener Art, Material-Collagen, Fotos (schwarzweiße, farbige), Filme zur technischen und ästhetischen Information, Dokumentarfilme, Interpretationsfilme, Spielfilme mit Architekturkulissen etc..

Unanschauliche Darstellungsarten sind:
Baubeschreibungen, Bauzahlen (Dimensionen nach Länge, Breite und Höhe, Flächen, umbauter Raum, Kostenangaben), Funktions- und Konstruktionsanweisungen, Erlebnisberichte, Nutzungsanalysen, vergleichende Statistiken, literarische Texte (Essays, Romane, Hörspiele) mit Architektursujets etc..

Diese beiden Darstellungsarten ergänzen häufig einander. Dabei sprechen die anschaulichen Darstellungen vorwiegend das bildhafte Gestalt-Denken an, das die zugleich sinnliche und geistige Grundlage des entwerferischen Komponierens ist und von dem wir wissen, daß es physiologisch an die rechte Gehirnhälfte gebunden ist. Die unanschaulichen Darstellungsarten wenden sich mehr an das begriffliche, rational-logische Denken, das mit der linken Gehirnhälfte arbeitet. Das bildhafte Material ist etwas wie "das Fleisch" der architektonischen Erfindung, es stellt die zusammenhängenden Vorstellungen des Entwurfs dar, seinen eigentlichen Stoff. Die symbolischen Darstellungen sind eher "das Knochengerüst"; sie beziehen sich auf den begrifflichen Charakter des Entwurfs und erlauben die Verständigung über Art, Zahl und Anordnung von architektonischen Elementen und Systemen. 

Eine Typologie der Architektur-Darstellungen

Der Versuch einer Typologie der Architektur-Darstellungen soll bei der Unterscheidung verschiedener Arten von AUFGABEN der Darstellung ansetzen. Die Aufgaben im kommunikativen Prozeß sind bei den Darstellungstypen jeweils andere. Ihnen wurden - in der historischen Entwicklung wechselnd - bestimmte Techniken zugeordnet. Häufig werden in der Praxis verschiedene Aufgaben miteinander verbunden, manchmal treten sie aber auch in ihrer Eigenart rein und eindeutig hervor. 

1. Verständigung
Eine wesentliche Aufgabe der Zeichnungen, Modellen etc. ist die Verständigung über Daten vor oder nach Ausführung eines Bauwerks. Einmal dienen die Informationen der Vorbereitung des Bauens (Skizzen, Baupläne, Massenmodelle, Bauzahlen etc.) einmal der Aufbewahrung und der Erinnerung (Aufmaße, Bauaufnahmen, Bestandmodelle, Dokumentarfilme etc.). Solche "Dokumente der Verständigung" sind vorwiegend reduktionistisch, d.h. auf Darstellungs-Elemente zurückführbar, deren Zusammenstellung bestimmten Regeln folgt; sie sind dadurch kontrollierbar, wiederholbar, "objektiv", eindeutig, zuverlässig und deshalb die Basis der technischen und wissenschaftlichen Verständigung über Architektur. Sie werden möglichst korrekt hergestellt und sollen dem Empfänger die "richtige" Information bringen. Sie verzichten auf persönliche Aussagen des Zeichners; sie beschränken sich auf materiale, meist quantifizierte oder quantifizierbare Angaben. Insofern entsprechen sie dem Ingenieurdenken; sind brauchbar, zweckmäßig, praktisch und instrumental. Sie haben in diesem Sinne "Werkzeug-Charakter". 

2. Ausdruck und Überredung
Andersartige, eber ebenso wesentliche Aufgaben der Darstellung sind die des Ausdrucks (expressive Funktion) und die der Überredung (appellative Funktion). Architektur-Darstellungen können - über die sachlichen Mitteilungen hinaus - Eigenarten des Zeichners offenbaren: seine individuellen Gefühle, sein "Weltstimmung", die Eigenarten seiner Hand, seiner Phantasie, seines Gedächtnisreservoirs usw.. Berühmte Beispiele sind die frühen Zeichnungen von Hermann Finsterlin, Bruno Taut oder Erich Mendelssohn. Sie können aber auch die philosophischen, weltanschaulichen bzw. politischen Ideen des Zeichners ausdrücken, seine Werthaltungen. Berühmte Beispiele sind die großartigen Zeichnungen von Piranesi, Etienne Boullée, Antonio de S'Elia. Darüber hinaus können sie auch Selbst-Interpretationen sein (Aussagen über Aussagen), geprägt durch Ironie, Bedauern, Genuß usw.. Berühmte Beispiele sind die Gemälde von J.M. Gandy zu Bauten von John Soane. "Ausdrucks-Zeichnungen" tragen also Züge der Selbstdarstellung des Zeichners und haben häufig einen hohen Rang als einmalige Werke, ja als Kunstwerke. Sie sind nicht wiederholbar, häufig im praktischen Sinne unnütz und nicht eigentlich prüfbar. Dennoch können sie außerordentlich sinnreich und wirkungsvoll sein.

Eine weitere Aufgabe der Architekturdarstellung ist die der gezielten Überredung bestimmter Adressaten. Werbe-Zeichnungen werden z.B. hergestellt, um Bauherren, Geldgeber, Kritiker usw. zu überzeugen. Besondere Techniken werden entwickelt, um kalkulierbare Wirkungen eines Gebäudes (aus bestimmten Blickwinkeln, bei Nacht usw.) zu zeigen. Man spricht von "Rendering" (rendu). Solche Darstellungen haben Aufforderungs-Charakter; sie erzwingen bestimmte Gefühle, versuchen, den Betrachter bei der Bewertung zu lenken, leiten an zu bestimmten emotionalen und ökonomischen Einschätzungen usw.. Berühmte Beispiele sind die Auftrags-Arbeiten des amerikanischen Star-Zeichners Hugh Ferris (1889 - 1962), dessen Perspektiven geholfen haben, manches Wolkenkratzer-Projekt zu finanzieren. 

3. Test
Bestimmte Zeichnungen, Modelle usw. haben Test-Funktion; sie dienen der Erforschung und Erprobung bestimmter Parameter des Entwurfs. So können z.B. bestimmte Perspektiven, Isometrien, regelmäßige Verzerrungen (Anamorphosen) usw. die Erscheinung von Baukörpern im Raum testen. Auch "unmögliche" Modelle (berühmte Beispiele sind die House-X-Modelle von Peter Eisenman), Darstellungen mit ungewöhnlicher Anordnung der Baukörper oder idealer Einfügung von Bauten in erdachte Landschaften (berühmte Beispiele sind die Capriccio-Bilder von Canaletto mit Bauten von Palladio) gehören in die Kategorie der "Test-Objekte". Auch funktionale Strukuren können probeweise dargestellt werden (etwa die Verkehrsbelastung einer Straßenkreuzung, die Nutzungsfrequenz einer Passage etc.) oder auch technisch-konstruktive Strukturen (z.B. ein Tragwerk im Hinblick auf Windbelastung, Licht-Qualität usw.). Gerade solche Darstellungen mit "phatischer" Funktion (Test-Charakter) sind unentbehrlich bei der Suche nach dem Neuen, beim "Erfinden", bei der Entwicklung geeigneter Formen und schöner Details, bei der Optimierung des Gebrauchs, bei der Dimensionierung ungwöhnlicher Tragwerke, der Suche nach überzeugenden Wirkungen usw. Hier löst sich die Darstellung von ihrer kommunikativen Aufgabe, der bloßen Information, aber auch vom individuellen Ausdruck sowie der Werbefunktion. Sie ist vielmehr eingesetzt bei der Suche nach den "Eigentlichen", "Schönsten", "Brauchbarsten" etc., sie dient der Reflexion, der Meditation, der künstlerischen oder wissenschaftlichen Suche, oder etwa dem erfinderischen Spiel.

Wahrscheinlich ist es nicht sinnlos, die Typologie der Darstellungsarten nach Aufgaben zu ordnen - ähnlich wie Ludwig Wittgenstein (im Tractatus Logico Philosophicus) Arten von "Sprachspielen" ordnet.

Die Verständigungs-Zeichnungen (1) korrespondieren mit Sätzen wie:   

  • Aus diesen Elementen ist der geplante Bau herstellbar.   
  • Der Horizontalschnitt (Grundriß) hat diese Gestalt.   
  • So etwa hat das Bauwerk ausgesehen.   
  • Das Haus sollte diese Maße haben.   
  • Das sind die erwünschten/passenden Details.   
  • etc.

Die Ausdrucks-Zeichnungen (2.1) beziehen sich dagegen auf Sätze wie:   

  • Solche Formen entsprechen meinem (d.h. des Zeichners) Bedürfnis.   
  • Das ist die Welt, von der ich träume.   
  • Es ist mir ein Rätsel, aber ich empfinde es so.   
  • Das ist der Zeitgeist, das wird heute so erwartet.   
  • etc..

Überredungs-Zeichnungen (2.2) scheinen auf Sätze zu reagieren wie:   

  • Etwas von der Art sollten Sie bauen!   
  • Das ist es, was Sie brauchen!   
  • Das gefällt Ihnen, nicht wahr?!   
  • etc..

Und Test-Zeichnungen (3) werden verständlich in Verbindung mit Sätzen wie:   

  • Hast Du je solche Raum-Wirkungen gesehen?   
  • Kannst Du Dir einen solchen Anblick vorstellen?   
  • Wäre diese Form noch erträglich?   
  • Denke Dir folgende Abwandlungen des Themas...   
  • Vergleiche probeweise A mit B.   
  • Ist es unmöglich, folgendermaßen vorzugehen?   
  • Was wäre, wenn..   
  • etc..

Vielleicht ist aber nicht nur die Architektur der Sprache und den Sprachspielen nah. Vielleicht ist auch die Darstellung der Architektur als "Sprachspiel" lesbar. Vielleich IST sie ein Sprachspiel. Schließlich wäre zu fragen, ob die Architektur SELBST von der Art eines Sprachspiels ist. Das wird das Thema des Seminars 1989 sein. 

 

Zusammenfassung schematisch:

DIE DARSTELLUNG VON ARCHITEKTUR

Das Ding/Der Vorgang (Bauwerke, Straße, Stadt etc.)
Das Bauen, das Umbauen, Zerfallen etc.   
Die Darstellung der Dinge/der Vorgänge (Zeichnungen, Modelle, Fotos, Filme, Texte etc.)

Anschauliche Darstellungen

Zeichnungen:    
Skizzen, Vorentwürfe, Entwürfe, Ausführungszeichnungen, Details, Isometrien, Perspektiven, Systemzeichnungen, CAD-Zeichnungen, Aquarelle, farbige Zeichnungen

Modelle:    
Massenmodelle, Ausführungsmodelle etc., Collagen

Fotos:    
schwarzweiße, farbige, Serien etc.

Filme:    
Dokumentarfilme, Lehrfilme, Werbefilme, Spielfilme etc.

Unanschauliche Darstellungen

Funktionsberichte:
Baubeschreibungen"Bauzahlen (m, qm, cbm, DM/cbm, etc.)

Erlebnisberichte:
Literarische Texte (Romane, Hörspiele etc.) mit Architektur-Sujets 

 

TYPOLOGIE DER ARCHITEKTUR-DARSTELLUNGEN

nach den "Aufgaben" der Architektur-Darstellungen:

  1. Verständigung über "etwas"

    1. Information:
      Mitteilung von Daten und Vorgängen vor Ausführung des Bauwerks

      1. Aufbewahrung, Erinnerung:
        Mitteilung von Daten und Vorgängen nach Ausführung des Bauwerks

  2. Ausdruck von jemand und Überredung von jemand

    1. "Ausdruck" als Selbst-Darstellung des Zeichner  
        

      1. Ausdruck des indiv. Gefühls, der indiv. "Weltstimmung"
           
      2. Ausdruck einer philosophischen/weltanschaulichen/politischen Idee  
          
      3. Selbst-Interpretation, Selbst-Kritik (Ironie, Bedauern, Vorwurf)

    2. "Überredung" als Werbung, Aufforderung zum Zwecke und im Auftrag

  3. Test     

    1. Test-Darstellung ästhetisch-formaler Strukturen     

    2. Test-Darstellung funktionaler Strukturen     

    3. Test-Darstellung technisch-konstrukiver Strukturen