Wolfgang Meisenheimer

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Zukunfts-Utopien und Ursprungs-Mythen

Dokumentation eines Seminars zu Fragen der Architektur-Theorie, veranstaltet im Lehrgebiet Grundlagen des Entwerfens (Prof. Dr.-Ing. Wolfgang Meisenheimer) durch den Fachbereich Architektur der FH Düsseldorf im SS 1993, Schloß Gnadenthal.

Inhalt:

Wolfgang MeisenheimerEinführung in den Themenkreis
Nicole MarkgrafIn Märchen verborgen der Zauber des Unmöglichen
Knut WalfWeltenbeginn und Weltenende (Anfang und Ende der Menschheit) in westlichen und östlichen Religionen
Klaus KrämerDie Krise der sozial-utopischen Ideen in modernen Marktgesellschaften
Ulrich ConradsDie Erfindung der Zukunft Gedanken über das Mögliche und Unmögliche
Eberhard SchweigertAus der Geschichte der Menschheitsträume: technische und andere Utopien
Johannes StüttgenZum Utopie-Verständnis bei Joseph Beuys
Burkhard GrashornDie verwahrloste Sehnsucht Reflexion nach dem Wettbewerb Weltausstellung EXPO 2000 Hannover
Dieter FuderFremdes Zur Utopie abduktiver Gesinnung
Jan PieperAnspielungen auf die Ursprünge der Menschheit bei Schinkel

 
Referenten- Verzeichnis:

Dipl.-Ing. Nicole Markgraf, Architekt, Prof. Dr. Knut Walf, Theologe Nijmegen, Klaus Krämer, Soziologe, LB Univ. Münster, Dr. Dr. Ulrich Conrads, Bauwelt, Bauwelt-Fundamente, Begründer von DAIDALOS, Berlin, Eberhart Schweigert, Maler, Bildhauer, LB FHD, lehrt Freihandzeichnen, Prof. Johannes Stüttgen, Düsseldorf, Dipl.-Ing. Burkhard Grashorn, Ass. Uni Dortmund, Prof. Dr. Dieter Fuder, FHD, Philosoph, lehrt "Designtheorie", Prof. Dr. Jan Pieper, F.H. Aachen, lehrt "Baugeschichte".



Einführung in den Themenkreis

Offenbar ist UTOPISCHES seit Jahrtausenden Architektenthema, obgleich "u-topos" (gr., frz.) ortlos, nirgends, Nirgendland heißt und Architekten sich -was immer sie tun - vor allem mit der Fixierung der Orte beschäftigen. Mit dem Wort "Utopie" sind assoziativ dreierlei Vorstellungen verbunden. Utopisches ist erstens von der Art der Schwärmerei, Sehnsucht-Darstellung: das ist der optimistische Einschlag. Zweitens wird Utopisches als Hirngespinst erachtet, als unerfüllbar, wirklichkeitsfremd, unrealistisch: das ist der pessimistische Einschlag. Drittens hat Utopisches den Charakter eines (undeutlichen) Plans zur Eroberung der Zukunft, es wird als Denk- bzw. Gefühls-Werkzeug verstanden: als Mittel. Das Wort selbst ist seit Thomas Morus 'Roman UTOPIA (1516) bekannt, der einen erdachten Musterstaat konkret beschreibt.

Von welcher Art sind nun die Werke, die Geisteskonstruktionen, die Modelle der großen Utopiker Platon, Augustinus, Thomas Morus, Saint-Simon, Marx und Engels, Rousseau, Nietzsche, Ernst Bloch, Etienne-Louis Boulleè, Sant'Elia, Novalis, Gottfried Keller, Hesse, Orwell, Josef Beuys, Gorbatschow? Zunächst sind die beiden Grundmotive voneinander abzuheben, die zur Konzeption der bedeutenden historischen und gegenwärtigen Utopien geführt haben. Erstens ist es die tiefe Empfindung des Ungenügens/ das Unbehagen am Zustand der realen Welt (hier und jetzt). Also der Widerspruch zum Faktischen - in diesem Sinne ist Utopie Fluchterzeugnis, Ersatzwelt - und zweitens die Sehnsucht nach einer neuen, einer anderen Welt, die Hoffnung auf eine bessere Zukunft. Hier ist Utopie kreativer Traum, erfinderische Darstellung von noch nicht Existierendem.

Ernst Bloch, der große Philosoph utopischer Dimensionen, formuliert etwa: Angst und Furcht herrschen. Das Leben aller Menschen ist von Tagträumen durchzogen. Ein Teil dieser Tagträume ist Flucht, ein anderer "reizt auf", er ist lehrbar. Denken heißt überschreiten, diese Tendenz ist entscheidend für Bewußtsein und Sein. Primär lebt der Mensch zukünftig, Vergangenes kommt später, Gegenwart ist das Schwerste...

In diesem Seminar werden verschiedene "Darstellungstechniken" aufgezeigt, in denen utopische Modelle seit eh und je formuliert worden sind: Darstellung mit Worten (geschrieben, gesprochen), Darstellung mit Bildern (Malerei, Gestik, Tanz, Film), sowie Darstellung mit Bauten. Dabei werden - gerade wegen der Abwesenheit von hier und jetzt - Denk-Modelle in märchenhafter bis wissenschaftlicher Verkleidung für die Grenzen von Raum und Zeit beschworen, für Anfang und Ende, Urbeginn und ferne Zukunft...des Menschen, der Gesellschaft, der Architektur.

Um sich in der Fülle der Aspekte nicht allzu rasch zu verlieren ist es sinnvoll, zunächst Arten von Utopien voneinander zu unterscheiden - auch wenn sie sich faktisch in vielerlei Überlagerungen zeigen.

  1. Utopien des individuellen Lebens
    sind die Tagträume, mit denen wir tagtäglich leben, die unsere Phantasie ausfüllen, die Luftschlösser, die Glücksvorstellungen, die Phantasmagorien der Lust, des Sex, allerhand Liebessehnsucht, aber auch das Gefühl für Zuhause. Die tiefste dieser Utopien des Lebens ist wohl die Sehnsucht nach der Ewigkeit.

  2. Sozialutopien, politische Utopien
    bestimmen seit Jahrtausenden die Schicksale der Völker: Träume von einer anderen, besseren Gesellschaft, etwa die "ideale" Ordnung von Besitz, die "gerechte" Verteilung von Essen und Trinken, von Arbeit und Geld wie Grund und Boden. Auch aber die unerfüllten Vorstellungen vom "besseren" Verhältnis der Männer und Frauen zueinander, - ausgehend von schlechten Erfahrungen und neue Möglichkeiten eröffnend (evolutionär oder revolutionär).

  3. Religionen, Mythen, Märchen, magische Riten
    als Darstellung einer "heilen" Welt. Das Mögliche und das Unmögliche scheinen hier durch die Erlebniswirklichkeit noch nicht getrennt. Wie in einem heiligen Spiel ist der Traum vom Höheren, Besseren spielerisch verfügbar. In utopischen Projektionen werden der Anfang (der paradiesische Ursprung) und das Ende der Welt und des Menschen beschworen.

  4. Philosophische Utopien
    (auch innerhalb der Einzelwissenschaften) versuchen, mit rationalen und systematischen Mitteln auf die gleichen Sehnsüchte zu antworten. Dabei steht neben dem uralten Interesse an Gedanken-Modellen zum Ganzheits-Zusammenhang der Welt das an den offenen Welträtseln, den Rätselfragen, Aporien ("Halsrätseln"). So versteht sich Philosophie als Ausbruch-Versuch aus dem vorerst gegebenen Erkenntnishorizont.

  5. Technische und medizinische Utopien
    sind z.B. die uralten Sehnsüchte nach der Fernwirkung, dem Ersatz und der Steigerung der Sinne ... Fernsehen, Telefon, elektronische Medien führen weiter, was mit dem Rad, dem Flugzeug etc. begann. Ein uralter Traum ist es auch, ETWAS aus nichts herzustellen, etwa Kraft oder Gold oder einen Menschen. Vermögen werden ausgegeben, das Altern zu verhindern, jung und schön zu bleiben, Medikamente, Moden, kosmetische Chirurgie, ja Gen-Manipulationen werden zum Instrumentarium nie zu stillender Hoffnungen.

  6. Die Kunst
    und die künstlerische Produktion können wohl insgesamt verstanden werden als "Arbeit am Utopischen". In gehörigem Abstand zu praktischen Notwendigkeiten entsteht NEUES und tröstet über die Misere des alltäglichen Lebens hinweg. Nietzsche sagt: "Die Kunst macht den Anblick des Lebens erträglich."

  7. Alltagskitsch und Banal-Utopien
    nehmen im öffentlichen wie im privaten Leben erstaunlichen Raum ein. Kirmessen, Illusionsparks (Disneylands), Ferien und Urlaubsparadiese, aber auch schöne Zerrbilder der Natur (Tierparks, Zoos, botanische Gärten) bieten ihre Wunder an. Im häuslichen Bereich steht das TV als Traumfabrik jedermann zur Verfügung, dazu kommen bestimmte literarische Genres, die Krimi-Szene u.a., bittere /süße Überredungsversuche zum vorgestellten Glück. Selbst in die Intimzone des Körpers dringt die Fabrikation der Träume ein: Nikotin, Alkohol und Aphrodisiaka erzeugen Rauschszenerien in vielerlei Nuancen.


Die architektonischen Utopien sind als Überlagerungsformen der vorgenannten Utopien zu verstehen. So werden etwa bestimmte künstlerische Formen (Baukörper, Raumgestalten etc.) mit bestimmten Sozialutopien (Ideen zur idealen Arbeitswelt o.ä.) verbunden. Die frühen Darstellungen der gedachten Ursprungsphase der Architektur (bei Vitruv und Filarete) beziehen sich auf magisch-mythische Vorstellungen vom Menschen, nicht auf konkrete gesellschaftliche Formen. In Rabelais' (1494-1553) Roman "Gargantua und Pantagruel" wird zum erstenmal ein Idealbau für eine Idealgesellschaft konkret dargestellt: die Abtei THELEMA an der Loire. Die großen Pariser Architekturtheoretiker Blondel (1617-1687) und Abbé Laugier (1713-1769) versuchen, eine Art frühen "Funktionalismus" zu formulieren, indem sie postulieren, Architektur sei an der NATUR zu orientieren und zugleich: dies sei VERNÜNFTIG. Die phantastischen Zeichnungen der Revolutionsarchitekten Etienne-Louis Boullèe (1728-1793) und Nocolas Ledoux (1736-1806) deuten an, wie ein großartiges Formenrepertoire der Architektur zwischen idealisierter "Naturstimmung" und monumentalisierter Geometrie zum Ausdruck einer neuen Menschheit werden könnte. Charles Fourier schlägt 1825 konkret eine "gargantistische" Stadt PHALANSTÈRE vor, in der - allerdings unter wahnhaften Traumbedingungen und mit reaktionären Architekturformen 1810 Personen leben könnten. Der Fabrikant Robert Owen plant gleichzeitig die Idealstadt NEW HARMONY in Indiana, in der er seine Erfahrungen mit einer Baumwollspinnerei in Schottland umsetzen will. So werden die großen Stadt-Utopien der frühen Moderne eingeleitet, die oekologische, soziologisch-politische, künstlerische oder technische Utopien akzentuieren und versuchen miteinander zu verbinden: die "Gartenstadt-Bewegung" des Ebenezer Howard, die "Cité Industrièlle von Tony Garnier, die "Città-Nuova-Projekte" von Sant'Elia und Marinetti, Fr.L. Wrights Prärie-Architektur, Le Corbusiers "Ville contemporaine" (1922) sowie sein "Plan Voisin" (1925). Während die Gestalter der Arts-and-Craft-Bewegung (William Morris, Ch. W. Voysey u.a.) von Theoremen einer Lebensphilosophie ausgehen, die auf einer romantischen Geschichtsprojektion basieren, versuchen die Meister von Bauhaus und De Stijl (Walter Gropius, Hannes Meyer, Theo van Doesburg u.a.) die Konstruktion eines technisch-aesthetischen "Gesamtkunstwerkes" für den modernen Menschen: "Architektur, Plastik, Malerei - alles in einer Gestalt, von Millionen Händen (Arbeitern, Handwerkern) hergestellt, als kristallenes Sinnbild eines neuen kommenden Glaubens!" (Bauhaus-Programm 1919). Gleichzeitig feiert die Gläserne Kette (Bruno Taut u.a.) die poetische Kraft des Individuums gegenüber dem Massen-Konsum und versucht - vergeblich - Architektur und Design der modernen Marktwirtschaft zu entziehen. Im Hinblick auf die industrialisierte Welt der Zukunft versuchen die russischen Revolutionsarchitekten (Leonidov, Kasimir Malewitsch, El-Lissitzky, Leonid Wesnin, Wladimir Tatlin etc.) eine eigene Sprache pathetisch-technischer Formen zu finden. Diese Anstrengung entfaltet um 1917 ein hochabstraktes, ingenieurmäßiges Formenrepertoire und verliert sich um 1929 in reaktionärem, klassizistischem Pathos (Barzsch, Bradow). So ist der euphorische Aufstieg der modernen Architektur von der Geschichte ihrer Utopie-Modelle begleitet. Die Formulierung dieser Utopien ist gewissermaßen die Darstellung einer ersehnten Zukunft in der unvollkommenen, ja widerlichen Gegenwart.

Und der heutige Stand?

Beim ersten Zugriff in die Gegenwart-Formen dieses unendlichen Themas fällt zunächst - desillusionierend - die "Utopienschwäche", der krude Pragmatismus auf, der ganz offenbar die individuellen und sozialen Lebensformen wie die Entwicklung der Wissenschaften, der Technik, der Architektur und sogar der Kunst gegenwärtig charakterisiert.

Dennoch möchte ich es wagen, im Bereich der Architektur vier Denklinien aufzuzeigen, die ausdrücklich "Utopisches Potential" in sich tragen - und die gerade deshalb Wege in die Zukunft zum mindesten andeuten.

  1. Typologische Wege des Historismus
    Typologische Arbeit könnte helfen, platten Historismus etwa "postmoderner" Art zu überwinden. Erfahrungen aus der Geschichte müssen allerdings zu Werkzeugen für Zukünftiges werden, - aber gerade nicht durch Abbildung historischer Formen, vielmehr durch neuartigen, poetischen Umgang mit den bedeutenden und bewährten Bautypen früherer Zeiten.

  2. Oekologische Utopien
    Die Forderung nach ganzheitlichen Konstrukten der Zivilisation, die Natur und von Menschen Hergestelltes als ein einziges System sehen, tritt immer deutlicher hervor. Solches Denken, das auf Überwindung des linearen Leistungsprinzips sowie der Ausbeutung der Natur und der Arbeitskraft des Menschen gerichtet ist, bringt möglicherweise auch eine Annäherung westlicher Ideologien an asiatische Denkweisen taoistischer Art mit sich.

  3. Der neue szenische Raum
    Phantasie auf die Bühne des öffentlichen Raumes! Eine Architektur der Zukunft muß sinnliche Erfahrung erweitern, - und das im Spiel! Es muß gelingen, neben die Qualität des individuellen Lebensraumes ausdrucksvolle, szenische Qualitäten der öffentlichen und halböffentlichen Räume zu stellen. Gerade indem die Menschen sich mehr und mehr in medialen, unsichtbaren Räumen lernen zu verständigen (Telefon, Telefax, TV, PC) brauchen sie umsomehr die Bühne des architektonischen Raumes für ihren körperlichen, konkreten Auftritt, für sinnliches Leben.

  4. Magisch-mythische Dimensionen
    Bei der Entwicklung der rationalen, insbesondere der elektronischen Werkzeuge und der Anstrengung auf technisch-oekonomische Erfolge hin, werden die magisch-mythischen Dimensionen des Erlebens und der Erkenntnis unso wichtiger. Wir wissen nicht erst seit Beuys, daß sie das Feld der rationalen Erfahrung allseitig umgeben und daß wir nolensvolens auf sie zurückgreifen. (Wenn es auch um kleine, philosophische Werke geht, die Arbeiten von Pichler, Abraham und Ando z.B. verweisen auf diese Tiefenzone, aus der die Träume und die Märchen stammen.)

Nicht ein einziger Schritt unserer Arbeit - von heute weg und auf Zukünftiges zu - wird möglich sein ohne ein Gran Faszination, d.h. ohne Utopien.

 

 

Architektur - für wen?

Dokumentation eines Seminars zu Fragen der Architektur-Theorie, veranstaltet im Lehrgebiet Grundlagen des Entwerfens (Prof. Dr.-Ing. Wolfgang Meisenheimer) durch den Fachbereich Architektur der FH Düsseldorf im SS 1994, Schloß Gnadenthal.

Inhalt:

Wolfgang MeisenheimerEinführung in den Themenkreis
Peter DegenInnerhalb/außerhalb der geschichtlichen Zeit: Was heißt "Bauen für die Ewigkeit, Bauen für die Gegenwart?"
Jürgen Schroeder / Lutz ConnertArchitektur als Ware, Architektur zum Verkauf
Peter ConradiArchitektur und Politik
Winfried JansenReligiöse Aspekte des Bauens z.B. im Sinne von Rudolf Schwarz
Wolfgang PohlArchitektur für die Masse, sozialer Wohnungsbau und alternative Konzepte
Georg KrautwurstKalenderbauten - Bauten für die Wissenschaft
Jean FlammangTemporäre Architektur Bauen für den flüchtigen Augenblick
Wolfgang DöringDas Haus als Kunstwerk Bauen um der Schönheit willen
Rolf LinkEin Architekt sagt, ich baue für mich selbst
Roland GünterWas können wir tun? Ressourcen-Planung als Aufgabe für junge Architekten? Eine neue Logistik für eine sozial-kulturelle Aufgabe

 Referentenverzeichnis:Prof. Dipl.-Ing. Peter Degen, FHD, lehrt "Städtebau" und "Stadtbaugeschichte", Prof. Dipl.-Ing. Jürgen Schroeder, FHD, lehrt "Grundlagen des Entwerfens", Dipl.-Ing. Lutz Connert, Commerz-Leasing, Düsseldorf, Dipl.-Ing. Peter Conradi, Architekt, Bonn, MdB, Prof. Dr. Roland Günter, Univ. Bielefeld, lehrt "Kulturgeschichte", Prof. Wolfgang Pohl, FH Münster, Prof. Winfried Jansen, FH Detmold, lehrt "Grundlagen der Gestaltung", Georg Krautwurst, Dipl.-Ing. Architekt, Prof. Jean Flammang, Luxemburg, Architekt, Prof. Wolfgang Döring. T.H. Aachen, lehrt "Baukonstruktion und Entwerfen", Dipl.-Ing. Rolf Link, Architekt, Köln, LB FHD.

Einführung in den Themenkreis

Architektur, von welcher Art sie auch immer sei, bezieht sich auf Menschen. Sie ist für jemand da, ist für jemand hergestellt, für Nutzer und Betrachter, für Mieter, Bewohner, Käufer, Entwerfer, Handwerker, Makler, Kritiker, Journalisten, für Kinder, für Dichter, für wen auch immer...

"Architektur für wen?" - Das Seminar fragt weniger nach den Objekt-Eigenschaften, vielmehr nach den Wirkungen und dem Rollenspiel der Architektur im Leben, im Denken und Handeln der beteiligten Menschen.

  • Wer versteht Architektur auf welche Weise?

  • Für wen ist die Sprache /die Aussage der Architektur verständlich /unverständlich?

  • Wem bleiben die Absichten /die Ziele der Planung verborgen? Und warum?

  • Für wen ist Architektur ausdrucksvoll, zweckmäßig, brauchbar, denkwürdig oder nichtssagend? Etc.


 
Skizze einer "Rhetorik der Architektur"

Zur Verständigung über das Rollenspiel der Architektur - bei einer solchen Vielfalt von Partnerbezügen - sind wir von einer disziplinierten Sprache abhängig, deren Begriffe nachvollziehbar, deren Grammatik konstant und deren semantische Aussagen trotz verschiedenster Interessen vergleichbar sind.

Eine solche Sprache der präzisen Verständigung hat drei Aufgaben:

  1. Sie muß berichten können über die Objektmerkmale /die Sacheigenschaften der Architektur (gestalterische, technische, geschichtliche etc.),

  2. sie muß die Charakteristik der Adressaten definieren, d.h. sie muß Auskunft geben über die beteiligten Menschen und die Art ihrer Interessen,

  3. sie muß das Rollenspiel der Architektur im besonderen Interessengebiet ihrer Partner erläutern. (Welche Wirkung hat Architektur auf wen, und warum?)

Die Wirkungen gebauter Dinge und Räume auf Menschen können von dreierlei Art sein:

  1. Architektur wirkt ausdrucksvoll (expressiver Charakter der gebauten Dinge und Räume). Dabei gibt das Gebaute Auskunft über seine Planer und Hersteller, auch aber über seine Auftraggeber, Mieter, Käufer, Bewohner etc.

  2. Architektur ist nützlich, sie fordert zum Gebrauch heraus (appellativer Charakter der gebauten Dinge und Räume). Sie gibt Schutz, sie ermöglicht das praktische Leben, fordert Verhaltensformen heraus, artikuliert individuelles gegenüber sozialem, privates gegenüber öffentlichem Leben etc.

  3. Architektur stellt (symbolisch) ETWAS dar: Schönheitsideale, geistige (philosophische, religiöse, künstlerische) Werte, Besitz, materielle Werte, politische Strukturen etc. Es ist besonders deshalb schwer, eine "Rhetorik der Architektur" verbindlich zu artikulieren, weil die verschiedenartig Beteiligten seit Jahrhunderten kaum aufeinander bezogene Ausdrucksweisen und Fachsprachen pflegen. Bauhistoriker und Architekturtouristen, Makler und Architekten, Bewohner und Handwerker - sie alle sprechen über Architektur, ihre spezifischen Interessen und Sprachen betreffen aber jeweils andere Eigenschaften des "gleichen" Gegenstandes...

 

Sechs "Widmungen" der Architektur

Eine schematische Skizze soll die sechs Bereiche aufzeigen, in denen sich das Interesse von Menschen an Architektur und deren vielfältiges "Rollenspiel" bewegen kann.

 
1. DER ERZEUGER-BEZUG

Architekten, Ingenieure, Handwerker, Bauindustrie, Baustoffhandel, Bauherren/Auftraggeber, d.h. Planer und materielle Erzeuger

  • leben (finanziell) von gebauten Dingen, verdienen an ihrer Herstellung und Erhaltung,

  • benutzen gebaute Dinge als "Vorzeige-Objekte", verweisen auf sie zum Beweis ihres Könnens, ihrer Kreativität, ihres Fleißes, ihrer Leistungsfähigkeit etc.,

  • geben mit Hilfe der gebauten Dinge ihrer Clientel bestimmte Signale, indem sie den räumlichen Rahmen von deren Lebensbedingungen mitbestimmen.

Charakteristische Fragen sind:
"Wer hat wieviel an diesem Bauwerk verdient?
"Was sagen die Bauformen über die Gesellschaft, die sie in Auftrag gibt?"
"Worin zeigt sich die Sprache eines entwerfenden Architekten?"
- etc..

 
2. DER BESITZER-BEZUG

Bauherren (Auftraggeber), Besitzer, Mieter, Makler, Käufer, Erben

  • verfügen über den Geldwert der gebauten Dinge als Kapital, als Vermögenswert, Tauschwert etc. Für sie ist Architektur eine Ware.

  • Sie genießen möglicherweise (auch emotional) den Eigentum-Charakter dieser Ware ("mein Haus, unser Familienbesitz" usw.)

Charakteristische Fragen sind:
"Was ist dieses Bauwerk (in DM) wert?"
"Wer verkauft/vermietet wem welche gebauten Objekte?"
"Für welches Projekt kann welcher Investor gewonnen werden?"
"Steht dieser Familienbesitz zum Verkauf?"
- etc..

 
3. DER NUTZER-BEZUG

Bauwerke dienen ihren Nutzern (Bewohnern etc.) in dreierlei Weise:

  • Bauwerke schützen vor Regen, Kälte, Hitze, Ungeziefer, Nachbarn etc. (1. Primärfunktion),

  • Bauwerke /gebaute Räume dienen als Wohnhäuser, Schulklassen, Kinderzimmer, Schwimmbäder etc. (2. Primärfunktion),

  • Gebaute Räume sind "Bühnen des Lebens", sie erlauben die Inszenierung des privaten und des öffentlichen Lebens, sie werden als Orte der Selbstdarstellung und der Selbstverwirklichung verstanden (Sekundärfunktionen).

Charakteristische Fragen sind:
"Ist das Dach dicht?"
"Ist der Raum als Kinderzimmer geeignet?"
"Welcher Platz ist für eine Demo geeignet, welche Straßen für Sonntagsspaziergänge?"
- etc.

 
4. DER WAHRNEHMUNGS-BEZUG

Genießer, Passanten, Touristen, Fotografen etc. nähern sich der Architektur mit zweierlei Interesse (wobei beide Ebenen miteinander verquickt sind):

  • sie erleben die sinnliche Qualität der gebauten Dinge und Räume, die sichtbaren, tastbaren und hörbaren Formen mit Licht und Schatten, Farben, Echos, Oberflächenqualitäten etc. und

  • stellen das unmittelbar Erlebte in Zusammenhang mit dem Gewußten und Erinnerten, mit früheren Erfahrungen und mit der Geschichte.

Für sie ist das Gebaute "sinnliches Szenario", (erregend, verzaubernd oder langweilig, öde etc.) einerseits und "Bildungsgut, Wissensstoff, Erinnerung" andererseits. Allerdings ist die Empfindung der Farbe, der Proportionalität, der Kühle etc. unmittelbar mit den Erinnerungsqualitäten (das hast Du schon einmal gesehen, das gilt doch als schön usw.) verknüpft.

Charakteristische Fragen sind:
"Welche Farb- und Lichtstimmung ist für dieses Zimmer charakteristisch?"
"An was erinnert die Fassade?"
"Was galt 1350 in Siena als schön?"
- etc.

 
5. DER WISSENSCHAFTS-BEZUG

Alte, neue und geplante, noch nicht gebaute Architektur kann Gegenstand wissenschaftlicher Untersuchungen sein,

  • die historisierend vorgehen können, d.h. die Einordnung in die Baugeschichte betreffen,

  • die systematisch vorgehen können, d.h. technische, formale oder funktionale Fragen einzeln oder in ihren Querbezügen stellen,

  • die paedagogischen und /oder kritischen Sinn haben können (Architekturtheorie, Architekturkritik/-Journalismus).

Charakteristische Fragen sind:
"In welchem historischen Zusammenhang steht dieses Bauwerk?"
"In welchem Funktionszusammenhang ist diese Technologie sinnvoll?"
"In welchem politischen Zusammenhang sollte der Umbau des Reichstags gesehen werden?"
- etc.

 
6. DER KUNST-BEZUG

Gebaute Dinge und Räume spielen seit Jahrhunderten eine große Rolle als Motive in Werken der darstellenden Kunst:

  • Canalettos Venedig, Pieter de Hoochs flämische Stadt, Cézannes Häuser der Provence, Gerhard Richters Großstädte sind bedeutende Beispiele für Architektur als malerisches Motiv.

  • Gordon Matta Clarks zerschnittene Häuser, Hansjörg Voths Marokkanische Treppe zeigen Architekturmotive in der Skulptur.

  • Fritz Langs Metropolis, Wim Wenders Berlin stehen für Stadtmotive im Film.

  • Bizets Sevilla, Mussorgskis Kreml, Shakespeares Verona sind als Bühnenstädte weltberühmt. Etc.

Gebaute Dinge und Räume können aber auch selbst originäre Kunstwerke sein, die als solche geplant, gemacht und verstanden werden:

  • Palladios Villa Rotonda als begehbares Antiken-Modell,

  • Boullées Tempel der Vernunft als philosophisches Kunstwerk,

  • Gherys Museum in Weil als Skulptur,

  • Eisenmans House X als serielles Denkmodell,

  • Holleins Frankfurt-Museum als sich selbst zeigendes Raum-Kunstwerk. Etc.


Das Seminar ARCHITEKTUR - FÜR WEN? will die Mannigfaltigkeit und Widersprüchlichkeit der Interessen von Menschen an Architektur aufzeigen und im Vergleich besprechen. Vielleicht kann trotz der tausend alltäglichen Mißverständnisse, Gegensätze und Unvereinbarkeiten in der Korrespondenz der Beteiligten ein Beitrag zu einer gemeinsamen Sprache geleistet werden, die der Komplexität des Gegenstandes angemessen ist.